03.05.2011

Michael Lentz – Valeri Scherstjanoi, der letzte Futurist

Michael Lentz – Valeri Scherstjanoi, der letzte Futurist

»es ist immer gegenwart«, heißt es am Schluss von Gerhard Rühms manifestartigem Aufsatz »grundlagen des neuen theaters«.1 In Bezug auf das ästhetische Denken und Handeln Valeri Scherstjanois müsste der Satz abgewandelt werden zu: »Es ist immer Gegenwart und Vergangenheit zugleich«. Die Vergangenheit ist ein Steinbruch, in den sich Valeri Scherstjanoi zur täglichen Arbeit schickt. Sie ist der Prüfstein für die Gegenwart. Paradoxerweise passiert bei Scherstjanoi die Gegenwart den Filter der Vergangenheit, während er selbstredend nicht in die Vergangenheit zurücklebt.

Vergangenheit entblößt. Und relativiert. Und spielt herunter. Und scheint überlegen zu sein. Das Bewusstsein der Vergangenheit aber heißt Gegenwart. So ist Vergangenheit stets Vor- und Entwurf.

Die Vergangenheit hat Begriffe und Namen: russischer Futurismus, Saum’-Sprache; David Burljuk, Welimir Chlebnikow, Alexej Krutschonych, Wladimir Majakowski und – für die jüngste Vergangenheit – Carlfriedrich Claus, den Scherstjanoi 1982 kennenlernte. Ohne die Freundschaft mit Scherstjanoi wäre Claus’ künstlerische Rezeption des russischen (Kubo-)Futurismus auf der (fremd-)sprachlichen Ebene sicher nicht so komplex verlaufen. Auch an Übersetzungsprojekten haben die beiden Künstler zusammengearbeitet. So hat Scherstjanoi im Auftrag von Rudolf Mayer für den Verlag der Kunst (Dresden) Rohübersetzungen der Deklaration der saumnischen Sprache von Alexej Krutschonych angefertigt, die Carlfriedrich Claus seiner Nachdichtung zugrunde legte. Die erstmalig ins Deutsche übersetzte Deklaration wurde 1982 im Katalog figura 3 auf der IBA Leipzig veröffentlicht.

Das sind – und eine Reihe von anderen könnten hinzutreten – die Programmatiken und künstlerischen Fixsterne, um die Scherstjanois eigenes System beständig kreist. Auf diese Weise befindet er sich permanent in der Situation, im Spannungsfeld zwischen matrixbildender Vergangenheit und vergangenheitsbezogener Gegenwart als vermittelndes und dennoch originären Mehrwert erzeugendes Subjekt zu bestehen. Täglich vor die Zerreißprobe dieses selbstauferlegten Programms gestellt, gelingt Scherstjanoi wie kaum einem anderen Künstler der Gegenwart eine genuine Osmose zwischen Altem und Neuem, ohne dass er Altes bloß aufwärmen oder recyceln würde.

Valeri Scherstjanoi ist Scribentist und Lautpoet. Er ist Hörspielautor und Prosaist. Er schreibt Gedichte und macht Poesiefilme. Er ist ein großer Leser. Zu seinem lesenden Einzugsgebiet gehören nicht nur die historischen Avantgarden, die er auf den Prüfstand ihrer Aktualität stellt, sondern auch Gedichte, Erzählungen und Romane vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Seine kritische Begeisterung, die zeitintensive Hingabe an die Lektüre schlagen produktiv um in ästhetische Grundsatzfragen, die regulativ sein eigenes Produzieren begleiten. Hier ist also kein Orthodoxer am Werk, dessen kompromisslos experimentelle Haltung mit dem Gestus des Erhabenen alles vom Tisch fegt, was nicht aus dem avantgardistischen Stall kommt. Überhaupt stellt Scherstjanoi mit guten Gründen die Abgrenzungstauglichkeit der Begriffe ›experimentell‹ und ›avantgardistisch‹ in Frage. Nichts ist ihm ein größeres Gräuel als die Politik avantgardistischer Sachwalter mit ihrem ästhetischen Reinheitsgebot auch in der poetischen Deklamation, das zum versteinernden Stillstand, zur Fossilisation von Kunst und Poesie und ihrer Geschichte führt. Und so konstituieren sich die Arbeiten von Valeri Scherstjanoi durch Anreicherungen divergenter Einflüsse, Stile, Ästhetiken und Poetologien; Prosa dringt in seine Lautgedichte ein, poetische Inseln durchziehen wie Intarsien seine prosaisch-narrativen Texte wie zum Beispiel »Nüchterne Nächte«2. In diesem Text erzählt Valeri Scherstjanoi von seinem Geburtsort, dem von Wachposten und Stacheldraht umstellten, von Salzseen umgebenen GULag Sagis (»Teer«). An die Erdölraffinerie, die Barackenhäuser und die Verwaltung, das Badehaus, die Schule und Scheunen, den Kindergarten, die Lagerhalle, die Kantine und den Sportsaal, den Radiolautsprecher auf dem Mastbaum, den kleinen Park und den Tanzplatz, die Ambulanz und die Müllgrube, die Geburtsklinik und die Kinderkrippe, den Brotladen und den Kasachenfriedhof von Sagis hat Scherstjanoi keine aktive Erinnerung mehr. Sein älterer Bruder, der Maler Lev Scherstjanoi, zeichnete einen Plan des Lagers, der seitdem als visueller Gedächtnisspeicher dient. Allein anhand dieser so anschauungsreichen wie detaillierten Skizze könnte man den kasachischen Ort, der bis auf einige Ruinen mittlerweile von der Landkarte verschwunden ist, wieder aufbauen.

Die konkrete Erinnerung an Ortschaften und Umgebungen setzte mit dem Tod Stalins ein. Die Familie zog von Sagis in die Arbeitersiedlung Achtyrskij am Rande des Kosakendorfes Achtyrskaja in der Region Krasnodar. Die ortskundigen Beschreibungen von Achtyrskij in »Nüchterne Nächte« machen den Eindruck einer Kamerafahrt, so plastisch und präsent ersteht die Siedlung und das Leben in ihr vor dem inneren Auge des Lesers. Mit dem autobiografischen Bericht liefert Scherstjanoi zugleich eine mentale Sig­natur der Region und ihrer damaligen Bewohner.

Seine in dem vorliegenden Band Mein Futurismus abgedruckte Bestandsaufnahme »30 Jahre Deutschland«, mit der Scherstjanoi diskret seine autobiografischen Prosastudien fortsetzt, ist ein über den eigenen, aber auch den gesellschaftspolitischen Entwicklungsgang verwunderter Rückblick von gro­ßer Informationsdichte. Mit ihm schreibt Valeri Scherstjanoi, der die DDR als Sowjetsoldat kennengelernt hatte (1969-1971 in der Nähe von Güstrow stationiert), ein Stück Mentalitätsgeschichte von Ost- und Westberlin aus der Sicht des Dolmetschers und Übersetzers (1985-1990) und ›freien‹ Künstlers. »30 Jahre Deutschland«, das ist eine individuelle Chronik, eine Kuriositätenschau, und nicht zuletzt eine Sammlung schöner Aphorismen samt Verkehrung von Figur (oberhalb des Bodens) und Grund (auf dem Boden). Die Geschichte der DDR wird in einem Satz gebündelt, der aus einem Roman von Kafka stammen könnte: »Ich ertrage keine Regierungsgebäude, da man nie weiß, was sich in ihnen ereignet.« Die eigenen Wirrungen geraten zur eben nicht systemkonformen Selbstbehauptung: »Das Leben ist mein privates Chaos.« Der Traum ist für die Poesie da, die, geträumt, nur noch notiert werden muss: »Heute träumte ich von unbekannten Worten, sie hießen ›krimpelig‹ oder ›keimplich‹ und ›bürsig‹.« Sag mir, wo die Kakerlaken sind; dass sie in der DDR, obschon nicht vorhanden, wie Scherstjanoi diagnostizierte, vom Grund auf zur Figur der Abwesenheit werden konnten, erstaunt ihn auch lange nach der Wende noch: »Kakerlaken. Dieses Ungeziefer begleitete mich bis zum 29. Lebensjahr, das dreißigste Lebensjahr begann in der DDR. Ab dann das kakerlakenlose Leben. Und jetzt sind schon wieder 30 Jahre vergangen. Kakerlakenlos. Die kakerlakenlosen Lebensjahre. Ich wunderte mich im Schlaf und dachte an die vielen Freunde, die in diesen 30 Jahren verstorben sind.« Ganz nüchtern, dabei voller Zuversicht stellt sich der Autor in dem Rückblick »Erlebnisse privater Art« dem factum brutum des Todes: »Meine toten Freunde sind nicht tot. Sie werden so lange leben, solange ich noch leben werde. Sie sind tief in mir. Je älter man wird, desto weniger Freunde trifft man.« Und so leben der Maler Guillermo Deisler (1940-1995), der Maler Joachim Völkner (1949-1986) und der Lehrerfreund Carlfriedrich Claus (1930-1998) in der Erinnerung fort, die metamorphotischer Teil der Poesie ist. Carlfriedrich Claus ist der seismographische Kronzeuge der Zeitgeschichte, der um gesellschaftliche Utopien nie verlegen gewesen zu sein schien: »Carlfriedrich Claus war und bleibt für mich der erste Sturmvogel des baldigen  politischen Tauwetters.« – »Nach der Diktatur des Proletariats kommt die Diktatur des Sex, erklärte mir Carlfriedrich.« Und die Wende? »Ich muss gestehen: Ich jubelte, als die DDR zu Grunde ging. Aber ich habe mir ihr Zugrundegehen anders vorgestellt.« Manche Erinnerung gestaltet sich, mit Zeitdokumenten konfrontiert, auf enttäuschende Art blasser, als man sie im Gedächtnis verbucht hatte. Briefe, so Scherstjanois Hoffnung, sollten doch als biographische Dokumente des 30-jährigen Deutschlandjubiläums fungieren, jedoch: »Ich wollte mich in die Inhalte meiner 30 Jahre alten Briefe vertiefen, aber da gab es keine besonderen Tiefen.«

Zweisprachigkeit wird zur konstitutiven Erfahrung, die Verbesserung der Deutschkenntnisse mithilfe deutschsprachiger Literatur zu einem Lebensmotor. Das bewusstseinsbildende Vademecum des Spracharbeiters heißt: »Ist mein Deutsch heute gut?«

Als Dokument einer durch Erinnerung nicht zu lindernden Ort- und Heimatlosigkeit, die sich infolge biographischer oder zeitgeschichtlicher Umstände zu einer Unruhe stiftenden Topographie des Verschwindens auswächst, ist Mein Futurismus auch eine Liebeserklärung an die deutsche Sprache, deren Erwerb für Valeri Scherstjanoi wesentlich zur Identitätsbildung beigetragen hat – so sehr, dass der Autor in seine alte, verloren gegangene Heimat – »Wo die Worte mich steinigen« – nur noch reisen kann, wenn ihn jemand begleitet, der des Deutschen mächtig ist.

Anrührend ist »In der kleinen Heimat«, ein liebendes Portrait der alten Mutter und ehrendes Andenken an den verstorbenen Vater. Dieses Gedicht zeigt, wie man mit wenigen Strichen ganze Biografien mitsamt grundierenden Landschaften erzählen kann – und wie diese Biografien bei allen Ortswechseln das eigene Leben flankieren. Hier zählen nicht materialästhetische Dispositionen und Entscheidungen, der Akt des Schreibens wird hier nicht selbstreflexiv begriffen als mehr oder weniger autodynamische Entfaltung performativer Prozesse, die es gegen alle selbst eingeübten Muster und Erfindungen der Wiederholung durchzusetzen gilt. Vielmehr schließen die Gedichte und Prosastücke von Valeri Scherstjanoi auf der einen Seite an eine schriftkonforme Tradition des Erzählens an, die die codierende Tradition des Übertragungsmediums Schrift nicht in Frage stellt, auf der anderen Seite befreit ihn gerade diese Konformität von dem komplexen Problem einer ›geeigneten‹ Notation, indem eine Entscheidung mit dem potenziell jedem zugänglichen (bzw. übersetzbaren) lateinischen Alphabet von vornherein abgenommen ist.

So spontan und ›improvisiert‹, wie es zunächst den Anschein haben mag, ist denn auch das Lautstolpern, das Drauflosartikulieren nicht, das seine eigene – nicht codierte – Grammatik entwickeln kann, indem es sich in der Wiederholung als erprobt und variiert abrufbar erweist. Genau das lässt sich bei Valeri Scherstjanoi an seinen Artikulations- und Schreibgesten wunderbar beobachten.

In »Nüchterne Nächte« liefert er die Initiationsgeschichte seiner scribentischen Lautpartituren als Schreiben im Dunkeln: »Ich erinnere mich an mich, das Kind, das seine Worte im Dunkeln schreiben musste, weil Mutter das Licht ausmachte, und ich sah das Geschriebene nicht mehr, schrieb aber weiter. Dann schlief ich ein. Morgens betrachtete ich das Geschriebene und konnte es kaum entziffern. Aber es sah interessant aus. Die Zeilen trafen sich, gingen ineinander und auseinander.« Jahre später, in Deutschland, wiederholt sich diese Urszene, der Schreibende imaginiert sich eine leuchtende Raumschrift, eine Ätherschrift, die den Grund, das Trägermedium, verfehlen mag, die ihren Grund in sich selbst hat: »Ich sitze am Küchentisch und schreibe im Dunkeln, ich habe das Licht ausgemacht. Ich sehe das Blatt nicht. Ich sehe meine Handschrift leuchtend und schwebend im Raum. Mutter kommt nicht, ich mache das Licht dennoch nicht an. Die leuchtende Handschrift. Die ersten Gedichte entstanden im Dunkeln.«

Selbstbeobachtung ist mit den Jahren zu einem wichtigen Teil der Schreib- und Schriftperformance geworden, ihr gewinnt der Künstler Systematisierungsqualitäten ab, die zum Beispiel in einer eigenen Begrifflichkeit zum Ausdruck kommen. So referiert die Selbstbezeichnung »Scribentist« bzw. Scribentismus in ihrer begrifflichen Distinktion auf die Tätigkeit des Schrift-Schreibens bzw. die Kunst des Schrift-Schreibens als solche jenseits der Frage, was geschrieben wird. Seine scribentischen Blätter können als autonome ästhetische Zeichenkonfigurationen und -konstellationen betrachtet werden.

In jedem Strich sind die scribentischen Zeichen Differenz und bilden ein einzigartiges relationales System zwischen Lesbarkeit und stummer, das heißt rein visueller Autonomie, zwischen Determiniertheit und Indeterminiertheit.

Als höchst individuelle Manifestationen der visuellen Poesie und hermetischen Schrift-Kunst geht der künstlerische Impuls zu ihrer unausgesetzten, fast wütenden Hervorbringung jedoch nicht aus dieser visuellen Autonomie hervor, vielmehr gehört Scherstjanoi zu den Lautdichtern, für deren Arbeit die gelingende integrative Kopplung von Schrift und Stimme zur Poetologie und zum Grundbestand des ästhetischen Selbstverständnisses gehört. Die Auf­ein­anderbezogenheit von Schrift und Stimme, die Notierbarkeit stimmlicher Aktionen mittels Schrift und die Reproduzierbarkeit stimmlicher Aktionen durch ihre schriftliche Fixierung ermöglichen seiner Überzeugung nach einen beide Medien absichernden Transfer. Dieser Medientransfer bildet einen Loop des gegenseitig aufeinander Einwirkens und Modifizierens, indem die artikulatorische Nuancierung eines scribentischen Zeichens zum Beispiel während einer mitgeschnittenen Live-Performance zu einer graduellen Variation der Zeichengestalt führen kann. Den Allophonen entsprechen somit vom Autor zum Teil erfundene Allographen, deren ablesende Identifizierung die Merkfähigkeit gerade ihres Erfinders herausfordert – der Rezipient hält sich mit Freude, aber ohne topographische Kenntnisse im scribentischen Dschungel auf. Bei Live-Performances kann man Scherstjanois Stimme hören, wie sie das Aufzeichnen der Zeichen begleitet, seine Stimme sucht selbstwahrnehmend über das Gehör den Anschluss ans Auge, das wiederum das allmähliche Aufzeichnen der Zeichen beobachtet. So schließen sich die Sinnesorgane kurz, mit der Feder, dem Stift als haptischer Antenne.

Seine diachronen Tiefenbohrungen durch die Sprachschichten multilingualer Alphabete (kyrillische und lateinische Buchstaben) in Auseinandersetzung mit den Künstlern der historischen und Nachkriegs­avantgarden und ihren kreativen Settings fördern neben Verschüttetem auch Spurenelemente zutage, die unter Scherstjanois Hand zu ganz neuen Zeichenkonfigurationen werden.

Sein erfindungsreicher Schrift-Synkretismus kontaminiert nicht nur russisch-deutsche Sprachlautung in einem graphemischen Kurzschluss, sondern auch Schriftzeichen systemisch anderer Alphabete wie dem für das Altkirchenslawisch entwickelten Glagolitisch.

Mittlerweile enthält Scherstjanois scribentisches Inventar mehr als 1000 distinkte Zeichen, zum Teil frei erfundene, zum Teil bestehende Buchstaben und ihre allophonen Varianten repräsentierend, zum Teil aber auch mit visueller ideogrammatischer oder symbolischer Funktion, der keine artikulatorische Gestalt korrespondiert. So entsteht im Entwerfen immer neuer scribentischer Zeichen ein rhizomatisch wachsendes Zeichenarchiv, dessen unerschöpfliche kon­stellative Kombinatorik ein enzyklopädisches Ausmaß angenommen hat, das weltweit ohne Vergleich ist.

Valeri Scherstjanoi ist der letzte Futurist. Er ist vom Stamme der Lautpoeten mittlerweile einer der Dienstältesten und sicherlich einer der ganz Großen. Er ist kein Stimmartist im Sinne eines stimmlichen Exorzismus, wie ihn Carlfriedrich Claus, Bob Cobbing, François Dufrêne oder Gil Joseph Wolman betrieben haben oder Jaap Blonk betreibt. Seine »extended vocal techniques« schlagen keine Wurzeln in der Neuen Musik. Valeri Scherstjanoi würde nie behaupten, singen zu können wie Diamanda Galas, Meredith Monk oder David Moss. Die Singstimme wäre mit dem Granulat, der Rauheit der lautpoetischen Stimme geradezu unvereinbar. Was Scherstjanois Mund- und Atemwerk fabriziert, besitzt geistigen Tiefgang. Das in die Schrift Eingefaltete, das Überkommene und von ihm erfindungsreich Angereicherte faltet Scherstjanois Stimme wieder aus. In seinem Atem ist die Schrift gegenwärtig – eine Schrift, deren Strich quer durch die Jahrhunderte geht. Auch die »Schrift von keinerlei Sprache«, wie es bei Henri Michaux heißt.

 

Dem Vergangenheit erinnernden, Gegenwart überprüfenden und Zukunft anvisierenden Insulaner Scherstjanoi scheinen seine scribentischen Zeichen leicht von der Hand zu gehen und zum vegetativen Reflex geworden zu sein. Der Künstler als Schreibmaschine. Mit der ersten Spur auf dem Blatt ist die Richtung gesetzt, der die Hand folgt. Scribentische Texturen entstehen, in ihrem Inventar anscheinend abrufbar als eine innere »memorable speech«, von der Wystan Hugh Auden sagt, ein Gedicht soll »unvergessliche, der Erinnerung sich einprägende Rede« sein: »die Dichtung muss unsere Empfindungen bewegen oder unseren Intellekt anzünden; denn nur was bewegt oder entfacht, prägt sich der Erinnerung ein.«3 Scherstjanois Poesie zündet unsere Empfindungen an und bewegt unseren Intellekt.

Mal ist die Struktur transparent, die Konfiguration der Zeichen wohlgeordnet und streng gruppiert, mal herrscht ein unüberschaubares, vegetativ zu nennendes Durcheinander amorpher Strukturen vor mit ihren Verknäuelungen, Ausfransungen und in den Raum zielenden Vorstößen, zum Teil gerahmt von weichen geometrischen Figurationen wie Kreis, Quader oder Raute. Ordnung und Chaos schließen sich nicht aus, sie bedingen sich gegenseitig wie die distinkte Kodifizierung des Lautes und die stimmliche Improvisation. Immer wieder lässt sich an Valeri Scherstjanois scribentischen Blättern und an seiner Lautpoesie beobachten, wie seinem schrift- und lautgestischen Heraufbeschwören und Herbeirufen auch prozessuale Momente des Zerstörens, Revozierens und Löschens eigen sind, die wiederum in der fixierten Gestalt seiner Seh- und Hörstücke konserviert und somit selbst wieder gelöscht werden: ein gestalterhaltendes Paradox des Ephemeren.

Ein anderer Fall wäre hier die zerschneidende Zerstörung von scribentischen Blättern und das Neuarrangement ihrer Teile zu Collagen.

Bei aller Leichtigkeit der Schriftausübung durch die aufzeichnende Hand ist Schrift, wie Valeri Scherstjanoi sie begreift, jedoch keine selbstverständliche Materie, über die sich umstandslos verfügen ließe. Schrift ist für Scherstjanoi so etwas wie die Essenz des Lebens. In sie ist intarsienhaft seine Biografie eingelagert, und nicht nur seine künstlerische. In all ihrer Veränderung bewahrt sie Identität und bezeugt als Körperspur und geistige Emanation ein Leben. Gleichwohl ist diese Biografie nicht gesichert ablesbar aus Scherstjanois Zeichenkosmos; seine Zeichen verraten ihn nicht, lassen nicht eins zu eins auf seelische Dispositionen schließen. Dazu ist die Schrift dieses Kosmos als ein graphemisch-graphisches Palimpsest der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen und zuweilen auch des Ungleichen viel zu sehr verschlüsselt.

 

Zur Absonderung von Schriftzeichen läuft die Autobiografie der Handschrift mit ihren willentlichen Stilisierungen und unwillkürlichen, auch materialabhängigen Modifikationen parallel. Für den Autor kann sie signaletischen Wert besitzen bis hin zu einer Mnemotechnik der Erinnerung, des Heraufbeschwörens von Situationen, Stimmungen oder geistigen Prozessen. Wenn Erinnerung bedeutet, dass man sich nicht an etwas, sondern an sich erinnert, vermögen willentlich hervorgerufene Stilisierungen der Handschrift bis hin zu einer künstlerisch-künstlichen Handschrift eine fiktionale Autobiographie zu generieren. Man erinnert sich dann an seine Erinnerungen, die selbst schon mit keiner Realität zu verrechnen sind.

In Form von getrockneter Tusche ist auch ganz materialiter Vergangenes in Scherstjanois scribentische Blätter eingeschrieben. Dienen die scribentischen Zeichen als visuelle Marker, die in ihrer Differenz zumindest zum Teil notationstechnisch auf akustische Realisation hin angelegt und somit viel weniger intuitionistisch entstanden sind, als es der erste Eindruck noch erscheinen lassen mag, so stehen diese Zeichen auf einer zweiten Ebene privater Kodifizierung oftmals in einem narrativen Zusammenhang. Datierungen am unteren Ende des Blattes weisen dann nicht nur den Zeitpunkt der Entstehung aus, sondern grundieren das optische Tagebuch in loser Blattsammlung historisch, wenn auch vielleicht nur für den Autor. Die unterschiedlichen Gradationen der Lesbarkeit verführen den Rezipienten seinerseits wahrscheinlich schnell dazu, das einzelne Blatt nach symbolhaften Icons abzusuchen, an denen sich seine Augen sprichwörtlich festhalten können. Er rekon­struiert sich dann eine eigene Geschichte.

Als Notationsschriften und -grafiken fungieren die scribentischen Blätter nur in einem eingeschränkten bzw. einschränkenden Sinne – zumindest für Außenstehende. Ein einzelnes Zeichen mag den Artikulationsort und die Artikulationsaktion visualisieren, Parameter wie Lautstärke, Dauer oder zum Beispiel Stimmtonhöhe sind, insbesondere wenn supplementäre diakritische Zeichen fehlen, nicht determiniert/fixiert – zumal Scherstjanois Scribentismus nicht mit Buchstaben- bzw. Zeichengradationen als dynamische oder temporale Markierungen arbeitet.

Die Parallelführung von schreibender Hand und artikulierendem Mund bei Live-Performances mit Diaskriptor und Mikrophon lässt immerhin erkennen, dass ein Zeichen so lange artikuliert wird, wie es zu seiner Aufzeichnung braucht und dass der Punktierung des Blattes bzw. der Folie Laut- bzw. Geräuschimpulse korrespondieren. Hand und Mund gehen Hand in Hand.

Insofern wäre die Bezeichnung ›Partitur‹ irreführend, sind die scribentischen Blätter doch nur sehr bedingt auf Reproduzierbarkeit hin angelegt, und könnten von anderen Interpreten als dem Autor, selbst bei vorhergehender Einübung, wohl kaum als Lautgedicht gelesen werden. Die fast unüberschaubare Vielzahl divergenter Zeichen, die eine Memorierbarkeit schon auf niedrigem Niveau scheitern lassen würde oder zum Beispiel die grundsätzliche Offenheit der Leserichtung, sobald die Zeichen auf dem Blatt die lineare Zeilenabfolge (von links nach rechts und oben nach unten oder umgekehrt) verlassen, tun hier ihr Übriges. Gleichwohl könnten die Scribentismen als Animationsnotation für eigenwillige akustische Interpretationen verwendet werden.

Künstler sein heißt auch fixiert sein. Fixiert sein auf die immer gleiche Bewegung. Wie ein Sportler. Es geht darum, Technik und Kondition zu verbessern, zumindest auf einem möglichst hohen Niveau zu halten. Abgesehen von Fragen des Wettbewerbs, die beide Bereiche gleichermaßen betreffen, den Sport gewiss unabdingbarer und stets akut, sind es in der Kunst wie im Sport vielleicht nur die Bewegung, die in Gang gehalten werden muss, der Prozess, die Motorik, warum sich jemand getrieben fühlt, die Produktion fortzusetzen, anstatt es bei einer einmaligen Ausführung zu belassen. Sport und Kunst variieren das Immergleiche: »Das Gleiche nochmal anders«4. Die Produktion von Valeri Scherstjanoi kennt kein Ende. Würde er ewig leben, nähme auch seine Produktion kein Ende, da seine Zeichen kein Ende nehmen, das Immergleiche sich immer gleich variieren ließe. Valeri Scherstjanoi ist fixiert auf die Zeichenimprägnierung eines Blatt Papiers. Kunst ist weniger Selbstbehauptung, als dies gemeinhin angenommen wird. Es ist ein Verschwinden für die Sache. Wem das als bloßer Romantizismus, als Verklärung der sowie schon notorisch nebulösen Instanz ›Künstler‹ erscheint, dem sei entgegnet, es kommt noch schlimmer, der Künstler führt auch noch ein Leben. In und mit diesem Leben versucht er sich schadlos zu halten – für sein Verschwinden in der Kunst. Und in dieses Schadloshalten dringt (wieder) die Kunst. Der Künstler sucht einen Kompromiss. Das ist weniger dramatisch als es klingt. Der Kompromiss heißt »in der Kunst leben«. Das totale Verschwinden. Ein durchaus praktikabler und nicht zum ersten Mal praktizierter Kompromiss. Eventuell das Leben verkürzend. Die Kunst dafür nicht unbedingt und auf jeden Fall steigernd. Und so lebte er dahin, der Künstler. Der Rest ist Legendenbildung. – Oder ein Brief post mortem an Daniil Charms und Carlfriedrich Claus. Wenn das möglich wäre, dem toten Freund den Stand der – in die Irre gegangenen – Rezeptionsgeschichte mitzuteilen, die man verspricht, im angenommenen Sinne des Freundes zu korrigieren, oder ihm zu erklären, warum man nicht zur Beerdigung kommen konnte. In welchem Medium Carlfriedrich Claus wohl antworten würde? Daniil Charms wäre wahrscheinlich überrascht, mit Valeri Scherstjanoi im Jahre 2009 einen Nachkommen zu haben, der dem verehrten Oberoberiuten mitteilt, dass der Philosoph Jakow Semjonowitsch Druskin seine zu Lebzeiten größtenteils unveröffentlichten Manuskripte gerettet habe, deren Publikation in verschiedenen Sprachen ihn, Charms, weltberühmt gemacht hätten. Im wie auch immer gearteten Jenseits lässt Scherstjanoi den älteren Kollegen wissen, dass die alte mechanische Schreibmaschine ausgedient habe und dass die Welt einem heutzutage virtuell auf dem Schreibtisch stehe. Ob das analoge Medium Brief den Prof. Schusterling, wie Charms sich u.a. nannte, wohl erreicht hat?

Der Zeichenkundler Valeri Scherstjanoi hat sich ein Staunen bewahrt über die täglich wiederholte Kunst der Zeichen und Buchstaben, die ihm die Welt sind. Lineare, kreisende, ineinandergehende, auseinanderexplodierende Zeichen, im Dunkeln geschrieben, im Raum schwebend, verklingend, leuchtend, momentan festgehalten, wieder losgelassen, zu Erinnerungen fixiert, zu Filiationskommentaren und analytischen Rechenschaftsberichten, die Lineatur des buchstäblichen Schreibens auflösend zum scribentischen Zeichnen, das im Schreibprozess die Gebärde des typisierten Schreibens aufnimmt und individuelle Schwellensignaturen kreiert, dabei »in jedem Blatt die Zeit« lassend.

Wiederholung. Und dass man nichts anderes hat. Weil die Wiederholung nie dieselbe ist. Dasselbe, aber anders. Die Begeisterungsfähigkeit des Künstlers Valeri Scherstjanoi. Für die Sache. Für nichts anderes. Und das Leben will an dieser Begeisterungsfähigkeit teilhaben. Hat es aber nicht, und wird es auch nicht haben. Kunst ist schon ein Leben in Saus und Braus. Ein imaginäres. Was man da entdeckt zu haben glaubt, auf welche Reise man da geht. Und tatsächlich sind Scherstjanois scribentische Kon­stellationen auch imaginäre Reiseprotokolle. Nach LautLand. Es bleibt dem zuweilen starrenden Betrachter überlassen, von wo aus er seine Reise beginnt; gilt ihm alles gleichermaßen als unlesbar, hat er die große Freiheit, den Antritt seiner Erkundungen überall anzusetzen und in alle Himmelsrichtungen sprunghaft zu mäandern. Das Leben bietet eine solche Freiheit nicht. Diskontinuitäten und Brüche des Lebens werden in den seltensten Fällen als Freiheit verbucht, zuweilen immerhin als Befreiung. Die Aussicht, wieder auf Null gehen zu können, verheißt weder (Er-)Lösung noch Trost. In der Kunst auf Null gehen zu können, hält jung. Valeri Scherstjanoi ist jung geblieben. Er ist ein Künstler mit stark empfindenden Tentakeln. Seine Kunst sind im Schillerschen Sinn zutiefst sentimentalische Akte humorvoller Melancholie und melancholischen Humors.

 

 

1 Wiederveröffentlicht in: Gerhard Rühm: Aspekte einer erweiterten Poetik. Matthes & Seitz Berlin 2008.

2 Valeri Scherstjanoi: Nüchterne Nächte, in: Akzente, Zeitschrift für Literatur, herausgegeben von Michael Krüger. Hanser Verlag München – Heft 6/Dezember (2006): Heimat, hrsg. von Michael Lentz, Wolfgang Matz und Norbert Niemann.

3 Wystan Hugh Auden: Sprache für das Gedächtnis, in: Walter Höllerer: Theorie der modernen Lyrik. Neu herausgegeben von Norbert Miller und Harald Hartung, Dokumente zur Poetik, Band II. München Wien: Hanser 2003, S. 630-635, hier S. 630.

4 Samuel Beckett: Das Gleiche nochmal anders: Texte zur Bildenden Kunst. Herausgegeben von Michael Glasmeier und Gaby Hartel. Frankfurt am Main, Suhrkamp 2000.

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