14.08.2012

Wer soll was integrieren? Von Nathan der Waise

Nathan der Waise: Wer soll was integrieren?

Die gegenwärtige Integrationsdiskussion kann man weitgehend einem neuen Religionsstreit gleichsetzen. Um den wiederum zu beurteilen, muss man zur historischen Quelle zurückgehen, nämlich zur ursprünglichen Verhaltensweise der modernen, kapitalistischen Gesellschaft in Bezug auf die Religion.

In der westlichen Moderne wurden diesbezüglich fast zur gleichen Zeit (gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts) zwei völlig verschiedenartige Wege eingeschlagen. Sowohl in den Vereinigten Staaten Amerikas wie in Frankreich wurde, aber in fast konträrer Weise, von einer Religion Abstand genommen, die sich voll und ganz in den Dienst der staatlichen Tyrannei gestellt hatte, und wo Papst und König mit vereinten Kräften das geistige und freilich auch das materielle Leben unterdrückten.

Die französische Revolution hatte keine Wahl: der Klerus war schon immer gegen ihre Vorläufer vorgegangen, er hatte sich als Erzfeind der Aufklärung entpuppt und bestätigt, und nun wo es darum ging, Mann gegen Mann zu kämpfen, hatte er ohne zu zögern die Partei des Ancien Régime ergriffen, um dieses, koste es was es wolle, zu verteidigen. Die zuweilen blutrünstigen Ausschreitungen des aufgebrachten Volks gegen Nonnen, Mönchen und Pfaffen waren nichts anderes als die durchaus gerechtfertigte Rache an denjenigen, die an der Unterdrückung des Volkes Anteil genommen und sie immerzu unterstützt hatten, und damit eindeutig mitschuldig an den alten Zuständen gewesen waren. Nach vielerlei Episoden einer aufhaltsamen Umwälzung besorgte die französische Republik der Religion den gesellschaftlichen Status einer rein privaten, persönlichen Angelegenheit. Die bürgerliche Gesellschaft lebte von der Fiktion der „freien“ Einzelperson, die selbst entscheidet, was sie konsumiert, wo und wann sie arbeitet, was sie liebt, für wen sie wählt und wen sie anbetet. Dass es sich dabei um eine voll und ganz illusorische Fiktion handelte, liegt wohl auf der Hand, wurde aber nie offen als eindeutige Lüge verworfen, da letztere zum unerlässlichen Ideologiefundus der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft gehört. Die Religion erschien darin wie eine einfache, private Meinung. In der Tat war eine solche Fiktion möglich geworden, weil das katholische Christentum an diesem Zeitpunkt der französischen Geschichte zu einer alten, müden und schwachen Religion geworden war, die akzeptieren musste, was man ihr noch zugestehen wollte: immerhin ist es besser, sich mit dem Status einer bloßen Meinung zu begnügen, als von der Erdoberfläche verjagt zu werden wegen nicht mehr vertretbarer Ansprüche! Der in Frankreich vorherrschende Laizismus akzeptierte und tolerierte daher weiter Religion, aber nur als einen streng privaten Kult, dem es untersagt blieb, in das öffentliche Leben einzugreifen (hier drücken wir freilich einen Idealtypus aus, der sich nur mühsam, konfliktreich und unvollständig verwirklichen konnte).

Indes war das Bild in den jungen nordamerikanischen Staaten ein ganz anderes. Sowie die englische Revolution ein Jahrhundert vorher bereits von Pfaffen angeführt worden war (etwa vom puritanischen Oliver Cromwell), so wurde Nordamerika nacheinander von diversen, aus Europa ausgestoßenen Sekten bevölkert, die allesamt aus der protestantischen Reform entstanden waren, sich aber untereinander anhand lächerlicher Eigentümlichkeiten zu unterscheiden versuchten. Die amerikanische Republik entstand als eine religiöse Republik, als eine Republik der Religion (oder der Religionen). Ein rekurrierender Topos der protestantischen Sekten bestand darin, dass eine Republik den König abschaffen muss, um sich einer Gemeinschaft des „wahren Glaubens“ nähern zu können. Die lutherische Ablehnung des Papstes wurde ergänzt durch eine puritanische Ablehnung des Königs. Wo für einen französischen Revolutionär die Kirche mit dem Königshaus identisch und unzertrennlich blieb, war sie für einen amerikanischen Revolutionär genau das Gegenteil, nämlich die Alternative zum Königtum. Die spätere Geschichte der USA hat dann religiöse Toleranz auch so verstanden, dass jede Kirche alle anderen Kirchen akzeptieren muss. Der Atheismus ist in den USA noch heute ein Fremdkörper, genauso wie er es in einer islamischen Diktatur ist. Man kann seinen Glauben wählen, aber einen haben muss man. Indes besitzt Europa kein Recht, sich über die amerikanische Republik lustig zu machen, wo doch, gemessen an dieser Entwicklung, einige europäische Staaten sogar auf halber Strecke steckengeblieben sind, weswegen bei ihnen solche Schattengewächse wie Puritanismus und Königshäuser konfliktlos miteinander koexistieren, als bleiche Statisten des kapitalistischen Gruselfilms.

Was sein Verhältnis zur Religion betrifft zehrte Europa von beiden, dem französischen und dem amerikanischen Modell, wobei heutzutage das amerikanische mehr und mehr überwiegt. Dem französischen Modell ist Europa insofern verhaftet, als es weiter an eine individuelle Religion glaubt, und von der wesentlichen Tatsache absieht, dass so etwas schlechthin unmöglich ist: jede Religion ist wesentlich eine kollektive Praxis, die Gemeinsamkeit schafft und damit auch Identität. Von der Religion zu verlangen, dass sie von Gemeinsamkeit, Kollektivität und Identität absehe, und zum Bestandteil einer rein solipsistischen Konsumsphäre werde, ist eine Absurdität und impliziert, sollte man das ernstnehmen, die Religion radikal beseitigen zu müssen: die Anhänger dieser Fiktion spielen mit einer Vernichtung der Religion, die sie aber auf keinen Fall vornehmen wollen. Sie wollen Religion erhalten, aber ohne ihr innerstes Wesen; nur als bloßen Spuk. Die Amerikaner sprechen viel realistischer von religiösen communities, aber eben mit der Absicht, dass solche Kollektive flächendeckend sich ausbreiten und kein frei wucherndes Gras zwischen ihren Mosaiksteinen wachsen lassen: keine obligatorische Staatsreligion, aber eine nahezu obligatorische Staatsreligiosität. „Amerikanisch“ wird Europa nun insofern, dass es zwar selbst keines Gemeinwesens mehr fähig ist, aber fremde Religionsgemeinschaften akzeptieren und respektieren will. Dass der Begriff der Gemeinschaft (sei’s einer archaischen, auf patriarchalen Strukturen aufgebauten, sei’s einer zukunftsweisenden, auf authentisch politischer Praxis fundierten) mit einer liberalen, atomisierten Gesellschaft unverträglich bleiben muss, die nur Kapital und Ware kennt, entzieht sich nach wie vor dem öffentlichen Bewusstsein. Amerika hat es zwar geschafft, ein solches Kunststück praktisch zu vollbringen, aber nur aufgrund seiner eigenen, ursprünglichen religiösen Strömungen, und damit auch eine Gesellschaftsordnung produzierend, die nur noch aus lobbies zusammengesetzt ist, wo das „Allgemeininteresse“ nicht einmal als leeres Wort fortbesteht. Das gemeinschaftslose Europa hingegen ist damit konfrontiert, nur noch fremde Gemeinschaften zu kennen, die seine eigene Öde besiedeln.

Aus diesem ideologischen Mischmasch entsteht die (intellektuelle und politische) Schwäche, die unseren Kontinent zum Problem der misslungenen Integration islamischer Eingereisten führt. Die unerwartete Härte dieser Problematik, von der vor noch dreißig Jahren niemand geträumt hätte, hängt damit zusammen, dass der Islam eben keine alte und schwache Religion wie der Katholizismus ist, sondern eine Religion, die noch bei vollem Bewusstsein Gemeinschaft und Identität schaffen will (obschon sie selbst wieder in Splittergruppen zerfällt, die sich untereinander endlos bekriegen). Der Islam ist damit keine fiktive Religion (im Sinne einer subjektiven, ideologischen Meinung), er ist vielmehr der alte, reelle Anspruch auf eine konkrete, für die Kollektivität verbindliche Lebensweise, und es gibt konsequenterweise kaum einen Bereich des Alltagslebens, den er nicht beherrschen will. Damit verbunden ist freilich auch die Behauptung, dass er allein die Wahrheit verbreitet, und als Träger der universellen Wahrheit keinerlei „Toleranz“ anderen Lebensweisen gegenüber zu zeigen hat: für echte, strenge Gläubige ist Toleranz nichts anderes als das Gefühl der eigenen Schwäche, das Eingeständnis, dass man sich irrt. So verhält sich der Islam, und er kann sich auch gar nicht anders verhalten. Seit seiner Gründung war er eine erobernde, imperialistische Bewegung, genau wie seine monotheistischen Vorfahren es gewesen sind, als sie noch jung und kräftig waren.

Eine Gesellschaft, die nicht vom Islam beherrscht werden will, kann und darf ihn daher nicht tolerieren. Sie kann es sich aber nur leisten, ihn nicht zu tolerieren, wenn sie mit allen anderen Religionen gleichermaßen verfährt – aber gerade das hat sie niemals geschafft. Von ihren zwei Jahrhunderte alten Versäumnissen wurde sie nun ganz unerwartet eingeholt, aber das Erwachen kam aus der Konfrontation mit einer fremden Kultur, die man hier herüber geholt hat, und die man aus der alten Befangenheit heraus so betrachten wollte, als sei sie unbedingt mit unserer eigenen Fantomreligion identisch. Europa hatte gerade mühsam angefangen, die eigene Religion, oder eher was von ihr übrig blieb, zu verdauen, und nun muss es plötzlich eine fremde bei lebendigem Leibe schlucken, eine, die ihr ganz und gar zuwider ist. Arme alte Welt, deren Bewusstsein nicht weiterschlafen kann, und eine unerwartete Gefahr entdecken muss, die sie selbst hervorgerufen hat.

Stimmen haben sich erhoben, um diese Illusion eines möglichen Verdauungsprozesses zu brandmarken, aber dabei geht es, wie bei Thilo Sarrazin, nur um eine mangelnde Anpassungsfähigkeit der türkischen Einwanderer an die ökonomische Entfremdungsakzeptanz der deutschstämmigen Eingeborenen; oder, wie bei Necla Kelek, um die Anpassung der islamischen Frauen und Männer an die von ihr gelobte westliche „Freiheit“. Keine dieser Positionen geht der Sache auf den Grund, nämlich dass die Transformation der westlichen Welt in eine grenzenlose Akkumulation von Waren ihre einst lebendige Kultur vernichtet hat, eine Kultur, die noch fähig gewesen wäre, sich gegen eine andere zu verteidigen oder auch diese andere in sich positiv aufzunehmen - und sich nicht auf einen göttlichen Leichnam im Keller verlassen musste, um dem strotzenden Fanatismus aus anderen Ländern zu trotzen. Plötzlich muss klar werden, dass Europa, den Status der eigenen Religion betreffend, nie mit sich ins Reine gekommen war. Wenn eine Gesellschaft nicht mehr in der Lage ist, über sich selbst zu richten, kommt ihr Urteil von außen. Nicht anders ist es älteren Zivilisationen ergangen. Die Europäische schien sich durch eine nahezu unbegrenzte Fähigkeit zur Weiterentwicklung zu kennzeichnen, nur war der Motor dieser Entwicklung weder der technische Fortschritt, noch die wirtschaftliche Akkumulation, sondern der gesellschaftliche Konflikt, den Marx als Klassenkampf bezeichnet hatte, und aus dem es möglich erschien, mit einer wirklichen Demokratie und einem wahrhaft politischen Leben neu zu beginnen, sein Leben endlich in die Hand zu nehmen. Die konfliktreiche Dialektik der Gesellschaftsklassen, und nichts anderes, besaß die Fähigkeit, aufgrund der materiellen Fähigkeiten und Kräfte der Gesellschaft eine alte Ordnung aus den Angeln zu heben, weil eine von ihnen die alte Beschränkung, und eine andere den Willen zur Emanzipation verteidigte. Das Wirkliche wurde ständig mit dem Möglichen konfrontiert, und von diesem belebt. Sollte es tatsächlich dem Spätkapitalismus geglückt sein, diese Dialektik lahmgelegt zu haben, wäre das die schlimmste aller Nachrichten, auch und gerade für die bestehende Ordnung, die nicht mehr zur ihrer Aufhebung drängen könnte, sondern bloß zu ihrem Verfaulen und Absterben. In eigener Regie können Technologie und Handel das Übel nur noch anfachen und vergrößern, bis die Lebensfähigkeit der Gesellschaft zusammenbricht. Die derzeitige, sich weltweit verbreitende Anhäufung der „Staatsschulden“ ist nichts als der endlich gefundene Trick, um die Bevölkerung widerstandslos auszunehmen, und in ein stilles Instrument des Finanzkapitals zu verwandeln, nachdem man ihr zum Vorwurf gemacht hat, wie früher, im vermeintlich Goldenen Zeitalter der Nachkriegszeit, essen, trinken und schlafen zu wollen, ohne sich an das Gehaltsniveau des ordinären Kulis im nordchinesischen Hinterland anzupassen. Alle Inhaber der öffentlichen Kommunikation sind sich darüber einig, dass eine solche Vermessenheit unbedingt bestraft werden muss, als handle es sich um eine Neuauflage der ontologischen Erbsünde. Das Zukunftsprogramm lautet: Hungern, Mund halten, verzichten! So beginnt ein echter Zusammenbruch.

Dem Islam kann man nichts unter dem Bestehenden entgegensetzen, weder die christliche Religion, noch polizeiliche Verbote. Nichts davon hat die geringste Aussicht, sich als wirksam zu erweisen. Allein eine von ihm völlig andere Zivilisation würde es vermögen, ihn von sich selbst zu entfernen, und Überhand zu gewinnen. Da wo Menschlichkeit, Kommunikation, Freiheit, Freude am Leben und wirkliche Gleichheit zwischen Männern und Frauen herrschen, zerfließt Religion von selbst und löst sich auf, da sie als trügerische Ersatzformation nicht mehr gebraucht wird. Ist der Westen noch in der Lage, eine solche Zivilisation (eine Lebensweise, die es verdienen würde, als Zivilisation bezeichnet zu werden) hervorzubringen? Nichts deutet zur Zeit auf eine solche Möglichkeit. Deren Ausbleiben würde aber endgültig die Fähigkeit verwirken, auch dieses Problem zu lösen. Nur wenn der Westen mit sich selbst aufräumt, kann er fremde Gefahren meistern.

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