16.12.2016

Radonitzer: Goldstein lesen 2

Schach

Im letzten Kapitel des Romans bekennt der Erzähler (das Alter Ego des Autors), Glück wäre für ihn »die Schachveranda im griechischen Limassol auf Zypern und die kleinen Lämpchen auf den Tischen zu einer Tasse Tee mit Rum oder Kognak«.
Orte, an denen man Schach spielt, tauchen im Text mehrfach auf, der Erzähler nimmt die Blitzschachspieler, die Kommentatoren, selten die Meister, oft nur im Vorbeigehen wahr. Die Schwindler und Hochstapler tummeln sich an anderen Plätzen.
     Ich erinnere mich an den Schachklub in der Uralstadt Perm um die Jahrtausendwende. Die Schachtische waren beiseite geschoben, der Klub war zum Treffpunkt der Ufologen geworden, denen nun der einstige Parteisekretär der Millionenstadt vorstand, das versprach gerade mehr Publizität. Die Ordnung war verloren gegangen, kombinatorisches Voraussehen war einer irrationalen Erwartung gewichen, die Erlösung wurde – noch immer - von oben erwartet.
     Die Sowjetunion, einst ein Schachimperium, war nunmehr untergegangen, seine Weltmeister emigriert, sich gegenseitig befehdend, verstorben.
     Nach den Wirren der Revolution und des Bürgerkrieges fand 1925 in Moskau ein erstes großes Internationales Schachturnier statt, zu dem die Weltspitze der Schachspieler angereist war – der Deutsche Emanuel Lasker, Weltmeister 1894 bis 1921, der Kubaner José Raúl Capablanca, bis 1927 Champion, der Tschechoslowake Richard Réti. Der russische Meister Alexander Aljechin, Weltmeister ab 1927 – sie alle tauchen namentlich im Roman auf – war allerdings schon 1921 emigriert und galt als Renegat. Organisiert wurde das Turnier von Nikolai Krylenko, selbst ein bedeutender Schachspieler, später Volkskommissar für Justiz und Generalstaatsanwalt, der Schach mit Hilfe der Partei zum Massensport machen wollte. In der Person Krylenkos scheint auch die dunkle Seite des von der Strategie des Schachspiels geprägten Denkens auf – eine kalte, in den Dienst der Ideologie gestellte Rationalität, die Terror ermöglichte oder zu besseren Arbeitsleistungen in einem Taylorschen System befähigen sollte, wie der »Schuhkönig« Baťa es in seinen Werkhallen in Zlín versuchte. Die Ironie der Geschichte kehrt sich oft gegen die Repräsentanten solchen Denkens – Krylenko wurde 1938 nach erzwungenen Geständnissen als Saboteur des sowjetischen Justizwesens erschossen, ausgerechnet von Dschafar Bagirow, dem aserbaidschanischen »Ober«-Tschekisten denunziert und angeklagt. Krylenko widerrief bei der Urteilsverkündung alle seine Aussagen, wovon Jorge Semprun später in seinem Roman Der weiße Berg erzählt.
    Dieses Moskauer Schachturnier hinterließ im Film seine Spuren. Wsewolod Pudowkin, neben Eisenstein der bedeutendste Regisseur der frühen Sowjetjahre, mitten in den Dreharbeiten zu dem populärwissenschaftlichen Film Die Funktion des Gehirns, unterbrach diese Arbeit, um seinen ersten kurzen (stummen) Spielfilm Schachfieber zu drehen, der jenes Moskauer Turnier im Nobelhotel »Metropol« zum Hintergrund hat. Capablanca, Réti und weitere vier Teilnehmer des Turniers haben in der leichtfüßigen Geschichte, – ein Mann, gespielt vom Star jener Jahre, Vladimir Fogel, verpasst seine Hochzeit wegen eines Schachturniers – einen Filmauftritt, den Capablanca mit der Versöhnung der Brautleute krönt. Pudowkin verwandelt Theorie in Praxis, denn in authentischen Einstellungen sind die Züge der Schachpartner zu verfolgen, die Funktion des Gehirns wird ins Bild gesetzt.
     Der Film von 1925 hinterließ wiederum in Nabokovs Roman Lushins Verteidigung (entstanden im Jahr 1929) eine Spur. Walentinow, einst Manager des Schachgenies Lushin und später Direktor des Filmkonzerns »Veritas«, will seinen einstigen Schützling zur Mitwirkung in einem Film bewegen, in dem ein wirkliches Turnier eine Rolle spielen soll und echte Schachspieler gegen den Helden antreten. Turati und Moser (einstige Gegner Lushins, Turati jener, an dem Lushin scheiterte) hätten bereits zugesagt, nun brauche er noch Großmeister Lushin. Dieser kann sich Walentinow nur durch die Flucht entziehen.
     Sowohl in der vorrevolutionären als auch in der sowjetischen Literatur gibt es das Brett mit den 64 Feldern, mit König, Dame, Springer, angefangen von Puschkin über Dostojewski und Turgenjew bis zu Majakowski, Valentin Katajew (Schachmalaria persifliert die Gerüchteküche während des Moskauer Turniers) und Olescha, Schklowski veröffentlicht 1923 in berlin ein Bändchen mit Aufsätzen zur Kunst, Titel Rösselsprung, auch Schwindler treten auf, wie Ostap Bender, der große Kombinator aus Odessa, der in Zwölf Stühle einen interplanetaren Schachkongreß in Wasjuki veranstalten will, kassiert dafür das Geld und flüchtet.
     In Abschied von Narziss (1997) schreibt Goldstein: »Eines der charakteristischen Motive des Romans [gemeint ist die Vers-Erzählung ›Genosse Ardatow‹ von Nikolai Adujew] – Schach, ist in der Kunst dieser Zeit oft anzutreffen (Majakowski, Tichonow, Besymenski, Je. Polonskaja, die Lenin einen ›Schachspieler der Volkswirren‹ nennt, wir denken auch an New-Wasjuki von Ilf und Petrow und an ›Schachfieber‹ W. Pudowkins). Schachspiel stellt man sich nicht so sehr als Symbol eines sozial-klassenmäßigen Manicheismus (Schwarze und Weiße) vor, vielmehr als Ausdruck einer ordnungsidee, die das Chaos überwand, der strengen Kombinatorik des zeitgenössischen logischen (nicht ideologisierenden) Denkens. Nicht zufällig wird im Roman die Réti-Eröffnung gespielt, die Visitenkarte der hypermodernistischen Richtung im Schachspiel«.

                                                      ***

Mirza Aga, der Azeri, der Türke, der Azeri-Türke, der Tatare, unter welchem Namen er auch auftritt, eine der Hauptfiguren des Romans, entdeckt seine Berufung zum Kartenspiel bei der Beobachtung einer Männerrunde, die dabei über die Wiedererlangung eines kostbaren, von den Engländern gestohlenen Teppichs debattiert. Er wird vom Zusehen süchtig und lernt alles, was ein erfolgreicher Kartenspieler beherrschen muss, wie Mirko Czentovic in der »Schachnovelle« Stefan Zweigs, der die Schachregeln vom Danebenstehen lernt, sogar Weltchampion wird, doch dumpf wie eine Maschine funktioniert. Nabokovs Lushin lernt explosionsartig. Der bisher eher uninteressierte Knabe beobachtet unbemerkt einen Gast auf einer elterlichen Soiree, der im Arbeitszimmer des Vaters ein Kästchen mit geschnitzten Figuren öffnet. Neugierig geworden, wird er entdeckt, der Besucher erklärt, das seien Schachfiguren. Die Frage, ob er spielen könne, verneint der Knabe. Doch am nächsten Morgen hatte ihn eine unerklärliche Erregung erfasst. Er verfällt dem Schachspiel. Seine Tante, selbst Anfängerin, führt ihn ein, bald werden Schachkreise aufmerksam, er gewinnt ein erstes Turnier. Der schwebend erzählte Initiationsritus des Kindes, eingebettet in die täglichen Gepflogenheiten, die Besuche und Spaziergänge, die Eifersuchtsausbrüche der Mutter, die Enttäuschung über das Fernbleiben der Tante, ist eine behutsame Annäherung an ein Kind, das anders ist als die meisten.
     Ist Mirko Czentovic eher Konstrukt als blutvoller Mensch, Lushin ein schicksalsgläubiger rätselhafter Typ, der, vom Wahn verfolgt, sich in den Tod stürzt, ist Mirza-Aga ein »Macher«, ein mit orientalischer Wendigkeit gesegneter Typ, der erklärt, dass Capablanca, er sagt Capa, das Schachspiel schon pränatal beherrscht habe, so wie er das Kartenspiel. Beim großen Duell findet er in Mark Fridman, Issaj Glesers (des Erzählers Großvater) Mitarbeiter und Freund, seinen Exekutor, drängt ihm, den Ehrenkodex der Spieler befolgend, sein gesamtes Kapital auf und bedingt sich aus, Fridman müsse sich seine Beichte anhören.
     Mirza-Aga kommt als Kind zu Yaschar-Muallim, im Volk Eli-Effendi – der Gewesene, der nur in der Vergangenheit lebt, weissagen kann, heilige Bücher abschreibt, ein in der gelehrtenwelt unbekannter Ethnograf mit einem geheimnisvollen Namen, dessen verlorene Mittelsilbe durch einen Bindestrich ersetzt wurde. Unter seiner Zucht und Anleitung steigt Mirza von der armen ungebildeten Halbwaise zum zäh den Widrigkeiten der neuen Gesellschaft – Yaschar-Muallin hat er lange verlassen – widerstehenden proletarischen Intellektuellen auf, auf dem Weg zur neuen Elite vermutlich in Machenschaften mit Tschekisten verwickelt, als ihn der große Terror senst.
     Wsewolod Nikanorowitsch Spiridonow, Guru der jungen Leute in Baku, hinter dem sich der Petersburger Dichter, Philologe und Mystagoge Wjatscheslaw Iwanow verbirgt, 1920 bis 1923 Lehrstuhlinhaber für Klassische Philologie an der Universität Baku, 1924 mit Genehmigung nach Rom emigriert, sitzt mit einem Türken – dünner Bart, Karakul-Fez – beim Schach, Läufer schlägt h7, ein Zug, der im Roman mehrfach gespielt wird, als zwei Zivilisten mit pickligen Gesichtern eintreten, um den Türken zu verhaften. (»Mirza, du wirst mich doch nicht verlassen?«, ruft sein Freund Mark Fridman aus und die verhaftung läuft als alltägliches Schauspiel ab, die kleinen Mädchen spielten an der Treppe, hopsten mal auf dem einen, mal auf beiden Beinen…).
     Mark Fridman, von Spiridonow an die Fakultät geholt, entpuppt sich als ein junger Linguist für indoeuropäische Sprachen, den es nach Transkaukasien verschlagen hat, der dort dem Türken begegnet, aus den Tiefen des Gedächtnisses steigt eine Erinnerung an Mirza-Aga auf, aber es kann auch alles ganz anders gewesen sein, Mark Fridman hat auch eine Geschichte mit Issaj Gleser, zu der ein Mirza-Aga gehört, die Personen changieren, ändern ihre Identität, haben verschiedene Leben, eine der vielen rätselhaften Passagen im Roman. Wenn es denn Mirza-Aga ist, und ich bin sicher, er ist es, erzählt Goldstein hier eine Verwandlung: vom trickreichen und betrügerischen Kartenspieler zum Schachmeister, der dem Partner gönnerhaft einen Turm vorgibt, um nicht zu überlegen zu wirken. Aber beides ist Spiel, das eine gebaut auf Gerissenheit, Fingerfertigkeit, Kühle, aber auch Intuition, das andere auf Gedankenarbeit, Kombinationsvermögen, Rationalität, manchmal auch Wildheit und Besessenheit, wie der Erzähler es dem Champion aus der Hansestadt R. nachsagt, ein anonymes Porträt vom Leben und Leiden Michail Tals, des Weltmeisters von 1960.

                                                   ***

Abowjan, armenischer Mönch und Lehrer, der wider das Kirchendogma den heiligen Berg, den Ararat bestiegen hat, kehrt vom Verhör beim Bischof zurück und rüstet zum zweiten Aufstieg. Der Bischof verbietet und fordert zugleich, denn Abowjan hat »ES« gesehen, danach giert der Kirchenoberste, will selbst der Erkenntnis teilhaftig werden. Abowjan betrachtet ein letztes Mal die Gegenstände in seiner Hütte, auch das in Kars, damals noch armenisch, vorausschauend gekaufte Leichenhemd. Auf dem Hemd erschienen 64 weiße Schachfelder, in die er sechs Traktate in Felder schreibt, die auf dem Schachbrett schwarz sind, nur das letzte Traktat setzt er in ein weißes Feld, eine rätselhafte Handlung. Ein Wahn, ähnlich dem Lushins, der in jedem gefliesten Hotelgang, in jedem gekachelten Bad Schachfelder sieht. Die sieben Traktate sind kurze Erzählungen religiösen, philosophischen, historischen, schachtheoretischen Inhalts (Läufer schlägt Bauer auf h7), nehmen keine Rücksicht auf die historische Person Abowjans (1809 – 1848), das sechste Traktat mit dem Titel »Das Kurze« lautet lediglich »Konstantinopel 1915«, Hinweis auf den Genozid an den Armeniern. Der Aufstieg Abowjans auf den Ararat ist historisch verbürgt, denn er begleitete als Dolmetscher 1829 den Naturforscher und Arzt Friedrich Parrot, der im Auftrag der Kaiserlichen Akademie in Petersburg den Ararat bestieg. Abowjan studierte später in Dorpat (heute Tartu, Estland), kehrte nach Jerewan zurück und ist seit 1848 verschollen.

Wie Nabokov in Lushins Verteidigung, so enträtselt auch Goldstein nichts in seinem Roman.

 

Copyright: Radonitzer 2017

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