16.07.2012

Das Ende des Sozialkomas. Von Alexander Pschera

Alexander Pschera: Das Ende des Sozialkomas


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Das Soziale ist immer ökonomischer Natur. Das Soziale ist Added Value. Keine soziale Formation kann sich dem Auftrag, Werte zu erzeugen und zu erhalten, entziehen. Das Soziale muss produktiv sein, um zur Wirklichkeit zugelassen zu werden. Daher gehorcht auch das Soziale im Netz einer Ökonomie.
"Ökonomie" heißt "Hauswirtschaft". Soziale Internetökonomie ist die utopische Ordnung des Hauses "Internet". Häuser sind sichtbare Zeichen sozialer Realität. Häuser geben dem Sozialen Form und Richtung. Die Ordnungen und die Geheimnisse der Häuser sind Schlüssel zum Verständnis des Sozialen und der Gesellschaft.
Das soziale Netz ist ein Haus. In einer hypermobilen Welt ist das Netz zur letzten Behausung geworden. Diese Welt hat sich im Netz ein zweites Mal erschaffen, um sich vor sich selbst in Sicherheit zu bringen. Die transzendentale Obdachlosigkeit scheint im Netz aufgehoben. Die Sprache des Behaust-Seins ist ins Netz-Sprechen eingedrungen: "Homepage" ist sprachlicher Reflex unserer Unbehaustheit.
Doch das Soziale im Netz ist nur die Möglichkeit einer Verbindung. Es ist noch keine Verbündung. Das Soziale im Netz ist a priori nicht-sozial. Die Idee der sozialen Medien ist der Kontakt, nicht der Konsens. Das medial vermittelte Soziale ist kein wechselseitiger Bezug der Netznutzer untereinander, sondern es ist ein Bezug zwischen dem Nutzer und dem Netz. Sozial ist unser Verhältnis zum Netz, nicht der Bezug zu anderen Menschen. Das Netz, das Medium, steht als Vermittelndes und damit Trennendes zwischen den Nutzern.
Ist das Soziale also überhaupt medial denkbar? Es scheint, als würde im Medium die Idee der Verbindung das Soziale in Un-Verbindlichkeit auflösen. Im Medium wird das Soziale Objekt einer permanenten Verschiebung und Verlagerung. Es wird immer neuen Zwecken und Interessen unterworfen und kann keine eigene Regel formulieren. Ist, so gesehen, die Rede von den "sozialen Medien" nicht gleichbedeutend mit dem Ende des Sozialen im Sinne des Sozialen als Idee eines stabilen, verbindlichen Gemeinsamen?
Ökonomisch gesehen: nein. Was das "Soziale der sozialen Medien" sein kann, wird nur klar, wenn man die Mutationen der Figur des Sozialen zwischen dem Gebilde "soziale Marktwirtschaft" und der Struktur "soziale Medien" verfolgt.
Wir sind durch unsere Netzaktiviät unfreiwillige Akteure der Wertschöpfung . Wir bauen, indem wir die sozialen Medien nutzen, an einer globalen Wertschöpfungskette, in der Communities, Clans und Crowds erkennbar werden, die der Markt als neue Zielgruppen identifiziert. Das soziale Netz begann als ein Raum der zufälligen Begegnung. Heute ist er ein Raum, der von der Logik des Geldes bestimmt wird.
Diese Verzahnung  ist sichtbar und unsichtbar zugleich. Es gibt eine sichtbare und eine unsichtbare Ökonomie des Netzes. Die ökonomisch-soziale Doppelbödigkeit des Netzes ist täglich an der Parallelität von Alltagsnachrichten und Werbebannern auf facebook ablesbar. Die sichtbare ist das Werbebanner, die unsichtbare ist die milliardenfache Zustimmung zum Netz.
Diese wahre Ökonomie des Sozialen ist verborgen. Sie wird verborgen. Das Verschwinden-Lassen von Mehrwert ist Merkmal des neoliberalen Marktes. Wertschöpfung tut sich nur noch in kryptischen Bildtypen (Aktiencharts, Zahlenkolonnen) kund. Wenn der Markt spricht, dann tut er es in Enigmen.
Dieses Enigmatische des Marktes ist asozial - und nicht seine Transparenz. Ein Markt, der nicht will, dass man ihn versteht, verliert seine soziale Mitte. Nicht-Verstehen treibt den Zerfall des Sozialen voran, dessen Mitte der Markt einmal war. Trennung durch Nicht-Wissen und Wissen zerstört Konvergenz.
Aus der Perspektive des Marktteilnehmers ist die Unsichtbarkeit des Marktgeschehens Signal für Entkopplung, für asoziale Dezentrierung. Die Marktfigur der Unsichtbarkeit ist das Geld. Geld als Objekt der Spekulation bezieht sich nicht mehr auf etwas anderes, für dessen Wert es steht, sondern es bezieht sich nur auf sich selbst. Es wird zu einem sich selbst symbolisierenden Symbol, es verliert seine Evidenz als Tauschmedium.
Dieses sich selbst meinende Geld wird durch seine Virtualisierung noch transparenter. Es wird überführt in bargeldlose Zahlung (Kreditkarten, Paypal). Und dann vernichten fiktive Währungen auf den sozialen Plattformen vollends das Gefühl für die haptische Relevanz des Monetären. Wer mit facebook credits zahlt, vergisst und soll vergessen, dass diese Spielwährung umgetauscht wird in reales Geld. Er soll vergessen, dass sein Handeln im Netz Aktionen wirtschaftlichen Handelns ist. Es soll sich verstehen als Spiel.
Indem das Geld unsichtbar wird, verliert der Markt seine soziale Mitte: Gold war sozial. Geld ist es nicht mehr. Seine Transaktionen sind Abfolgen symbolischer, ja meta-symbolischer Zeichen. Geld und Markt geben der Gemeinschaft keine Verbindlichkeit mehr, sondern zerstören das Soziale durch Manipulation, die in ökonomischer Narration ("Markenbildung") und Enthemmung ("Shopping-Erlebnis") besteht.
Um seine Manöver des Unsichtbaren attraktiv zu machen, projiziert der Markt das Phantom der Freiheit auf die Leinwand des Netzes. Der Konsument kann überall mit seinem Smartphone konsumieren. Er hält das für eine Form der Freiheit dem Markt und auch seinem eigenen Konsum gegenüber. Er gefällt sich in dem Glauben, der Markt würde ihm grenzenlos zur Verfügung stehen. Als Bestandteil des Systems des Marktes ist diese Freiheit jedoch das Gegenteil. Für das System ist der Verbraucher ein statisches, weil vorhersehbares Element. Er ist auffindbar, ortbar. Unendliche Bewegungsfreiheit als Form totaler Freiheit ist so in Wirklichkeit eine Form unendlicher Vorhersehbarkeit.
Auch Freiheit wird zu einem sozialdestruktiven Element . Auf Dauer kann das nicht gut gehen. Kein Markt, der sich selbst auflöst und unsichtbar wird, hat Überlebenschancen. Die Krise des Kapitalismus ist nicht die Logik seiner Wertschöpfung oder irgendeine Frage der Gerechtigkeit, sondern das Koma, in das er das Soziale versetzt hat.

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Wie also kann dieser Markt seine soziale Mitte zurückgewinnen, ohne mit einem manipulativen Begriff von Freiheit zu operieren? Diese Frage macht die sozialen Medien für den Markt so interessant.  Denn in ihnen kann er das Enigmatische, in das er sich kleidet, abstreifen und das Soziale auf seine Logik konditionieren.
Die sozialen Medien sind für den Markt ein Weg ins Freie. Und dieser Weg bedeutet: das Soziale als Ressource denken.  Das ist die Erfindung eines liberalen Innovationsmusters. Dieses Muster wurde - wie könnte es anders sein - aus Kostendruck geboren. Die Märkte sind enger geworden. Zu allem, was wir kaufen können, existiert eine Alternative. Ein Großteil der Systemenergie fließt nicht mehr in die Erzeugung von Bedürfnissen, sondern in das Verbindlichmachen dieser Bedürfnisse. Angebote werden von Konditionierungen abgelöst. Konditioniert zu sein bedeutet mehr als bedürftig zu sein. Konditionierung ist ein automatisierter Konnex zwischen Angebot und Nachfrage, eine Kopplung von Produktion und Vermittlung.
Dazu dienen "Marken" . Doch Markenführung ist teuer. Marken setzen nicht am Individuellen an, weil sich dieses Individuelle nicht selbst verstärkt, sondern sie bemächtigen sich des Sozialen, das sie an anderer Stelle zerstört haben, um die Konditionierung kollektivistisch zu automatisieren. Die Idee der Marke besteht darin, individuellen über sozialen Sinn entstehen zu lassen. Denn das Begehren einer Marke ist immer ein gemeinschaftliches Begehren.
Deswegen bauen Marken Begegnungsräume, Häuser: Museen, Arenen, Flagshipstores, Auto-Städte. Das sind Konditionierungs-Tempel, die soziale Zugehörigkeitsmuster anbieten. Der Raum des Sozialen, den das individuelle Konsumverhalten zerstört, wird im Raum der Marken wieder aufgebaut, um eben diesen Konsum zu verstärken. Marken erweisen sich als Präfigurationen einer neuen sozialen Konvergenz. Sie erweisen sich als Vorspiegelungen der sozialen Medien, weil sie selbst Medien des Sozialen sind.
Marken und Marken-Häuser sind Vorstufen des sozialen Netzes. Aber diese Häuser sind in der Ertragslogik des Marktes langfristig nicht zu finanzieren. Das Soziale erst zu zerstören und es an anderer Stelle kostenintensiv zu rekonstruieren ist eine Hilfskonstruktion. Und genau an dieser Stelle kommen die sozialen Medien ins Spiel. In ihnen wird eine neue Mitte sichtbar, die dieser gespenstische Markt des Unsichtbaren dringend benötigt, um glaubwürdig zu bleiben und um seine finanzintensiven Zentrifugalkräfte zu fokussieren.
Aber vor allem: Das digital vermittelte Sozialen stellt die Durchbrechung der endlichen Ressourcen-Logik dieses Marktes in Aussicht.
In den sozialen Medien muss sich allerdings eine neue Figur des Sozialen konstituieren, die nicht sofort an der Differenz zwischen Lohn und Wertschöpfung zerbricht - jene Differenz, die den Arbeiter zum Angestellten machte und den sozialen Raum durch totalen Konsum und totalen Wohlstand zersetzte. Anders ausgedrückt: Eine Marktressource kann das Soziale nur dann sein, wenn es sich der Denkbarkeit durch den Markt verweigert, das heißt wenn es als Idee des Sozialen erhalten bleibt.
Das Soziale als Idee zu einem Teil seiner Wertschöpfung zu machen: diese Ratio steht hinter dem Konzept der sozialen Medien. Wenn es gelingt, die Idee des Sozialen zu erhalten, dann ist diese Ressource unendlich. Denn wo sollte sich das Soziale als Grunddynamik je erschöpfen?  Die Entdeckung einer nicht-endlichen Ressource ist das disruptive Motiv, das der Kapitalismus in den sozialen Medien als seine Rettung ahnt und in dem Neo-Liberalismus und Neo-Marxismus konvergieren.
Die Nicht-Endlichkeit der Ressource des Sozialen ist aber an eine Bedingung geknüpft: dass sich das Soziale freiwillig zur Verfügung stellt. Diese Selbsauslieferung hat eine negative und eine positive Seite. Die negative Seite heisst "Dummheit". Die positive "Revolution als Spiel". Die eine Seite ist von der anderen nicht zu trennen, so wie Utopie immer auch die Möglichkeit von Diktatur in sich schließt.

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Dummheit ist Selbstauslieferung an die Kraft der Marken. Sie ist unreflektierte Zustimmung zu einem Angebot, das auf kein vorhandenes  Bedürfnis zielt. Dummheit ist selbst zu einem Produkt geworden. Dummheit wird geplant, produziert und vervielfacht. Die moderne Form der Dummheit ist nicht gleichbedeutend mit einem Mangel an Intelligenz, der um seine eigene Verborgenheit bemüht ist, sondern sie offenbart sich als eine offensive Form der Konditionierung, das heißt als eine zur Schau gestellte Unfreiheit. Dummheit ist Konditioniertheit auf unnatürliche Bedürfnisse wie beheizte Handtuchhalter und Kite-Surfing-Urlaube in Ägypten und die offene Akzeptanz und Zurschaustellung dieser Konditioniertheit und dieses Begehrens.
Die Motivation für diese Dummheit besteht in der Flucht in eine schirmende soziale Figur. Dummheit wird in Kauf genommen, weil sie Ausweis ist der Zugehörigkeit zu einem sozialen Haus. Das gemeinsam Begehrte ist zu einem Ankerpunkt des Sozialen geworden. Wir lassen die Konditionierung zu, weil wir glauben, dass unsere Lebensqualität vom Weiterbestehen des Systems abhängt, das wir durch unsere Konditionierung unterstützen.
Wenn Dummheit ein Produkt ist, dann gibt es Maschinen, die dieses Produkt herstellen und die auf das Begehren dieses Produkts konditionieren. Diese Maschinen sind bedeutungsentleerte, impulsgesteuerte Konditionierungsapparate, die uns sagen, was wir "wollen sollen". Die Effizienzfalle des Marktes besteht darin, dass diese Maschinen der Konditionierung immer teurer werden, die Maschinen der Produktion aber immer günstiger. Wenn für die Vermittlung mehr Kapital aufgewendet werden muss als für die Produktion selbst, so ist das eine fatale Logik. Ein solches System ist unter dem Aspekt des Mehrwerts endlich.
Das soziale Netz dagegen verspricht unendlichen Mehrwert. Indem es das Soziale als Ressource aktiviert, vermittelt es die Aussicht auf eine Verschmelzung von Vermittlung und Produktion. Annäherungen an diese Form des Zusammenwachsens kann man schon erkennen, zum Beispiel Verkürzungen des Weges zwischen einer Bedürfnisgenerierung und ihrer Erfüllung. Teleshopping ist eine solche Annäherung. Hier wird auf kürzest möglichem Weg ein Bedürfnis erzeugt und befriedigt. Konditionierung und Konsum fallen ineinander, ihre Kosten werden identisch, dass heißt sie halbieren sich.
Aber auch Teleshopping ist letzten Endes "nur" Vermittlung von Produkten, die an anderer Stelle hergestellt werden. Der Prozess der Verschmelzung von Produktion und Vermittlung ist dort abgeschlossen, wo das Produkt der Dummheit mit seiner Vermittlung identisch wird. Er ist dort abgeschlossen, wo die Konditionierung selbst zu einem kaufbaren Produkt wird. Die Zugehörigkeit zur Marke ist dann lebenssinnstiftend, die Selbstidentifikation als Kunde wird zu einem existentiellen Moment.
Der Konsument ist nicht nur bereit, für ein Produkt zu bezahlen, sondern sogar für seine Mediation. Er bezahlt für die Erzeugung des Bedürfnisses und für die Zugehörigkeit zur Sphäre, in der die Vermittlung sich ereignet. Er finanziert seine eigene Konditionierung, weil die Markensphäre Ersatz seiner sozialen Existenz ist. Eine Situation ist vorstellbar, in der Menschen dafür Geld ausgeben, zum Raum einer Luxusmarke zu gehören, ohne jemals mit dieser Marke physisch in Berührung zu kommen (Ferrari-Club, Rolex-Lounge). Wo existentielle Sinngebung im Konsumieren besteht, da ist die Stimulierung dieses Bedürfnisses selbst existentielle Notwendigkeit. Dann ist man bereit, für die Aufrechterhaltung dieses Bedürfnisses ebenso zu bezahlen wie für die Befriedigung dieses Bedürfnisses selbst. Denn nur so lässt sich das Sinnmuster der eigenen Existenz aufrecht erhalten.
Diese Totalkonditionierung ist eine Superstruktur der Dummheit. Diese Superstruktur ist nur denkbar in einem kollektiv-hysterischen Raum, in dem das Verhalten der anderen transparent ist, in dem es in Echtzeit beobachtet und nachgeahmt werden kann. Denn nur in kollektiver Dynamik kann das Begehren, das einer Marke entgegengebracht wird, soweit gehen, dass es bereit ist, sich selbst zu erkaufen.
Eine solche Superstruktur der Dummheit sind die sozialen Medien. Sie sind ein sozial transparenten Raum, in dem sich Figuren des Sozialen selbst konstituieren und konditionieren. Das Soziale erzeugt sich hier als endlose, nie verlöschende Ressource immer wieder aus sich heraus. Facebook, Youtube, Twitter und Google+ sind gigantische Petrischalen, in denen sich das Soziale selbst befruchtet. Das Soziale ist hier eine Endlosschleife. Diese Endlosschleife ist anschaubar in communities, die einer Marke oder einem Unternehmen folgen. Diese Gruppen halten sich am Leben durch ihr eigenes Bestehen, weil sie sich festigen durch ihre spezifische Aktivität, die nicht in Nachahmung besteht, sondern in einer antiken kollektiven Figur: im agón, im Wettstreit.
Die Logik der communities folgt dem Gedanken des antiken Wettkampfs. Die soziale Figur der sozialen Medien wird durch eine agonale Dynamik am Leben gehalten, die Bewegung erzeugt, ohne dass von außen Energie einfliessen muss.
Doch diese communities sind nicht ausgerichtet auf die Idee dieser Gemeinschaft, die durch Tugenden definiert ist, sondern auf eine Marke. Sie kreisen nicht um ihr eigenes soziales Zentrum, weil es dieses  gar nicht gibt, sondern um einen unsichtbaren Schrein des Mehrwerts. Communities sind die Verwirklichung der Einheit von Produktion und Vermittlung in Form einer agonalen sozialen Selbstkonditionierung. Sie stehen am Ende des langen Weges, auf dem der Markt die widerständige Figur des Sozialen zerschlagen, als abstraktes Konstrukt ausgestossen und nach seinen eigenen Regeln als Ressource schließlich absorbiert hat.
Diese Absorption des widerständig Sozialen geschieht durch das Zusprechen von Verantwortung in Form von narrativen Strukturen. Marken erzählen Geschichten und konstituieren so soziale Räume. Mitverantwortlichkeit trägt in den sozialen Medien Namen wie crowd sourcing oder open innovation. Unternehmen nutzen dabei die Kreativität der Menge, um ihre Geschäftsprozesse zu optimieren oder zu beschleunigen. Unternehmen wie Starbucks oder Dell haben eigene sozial-mediale Plattformen aufgebaut, auf denen Kunden durch ihre Ideen am Unternehmen mitgestalten können. Andere Unternehmen lassen auf facebook über ihre Logos abstimmen, sammeln Schokoladenrezepte ein oder lassen Kunden als Hauptdarsteller in ihren Werbevideos agieren.

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Doch wenn Produkt und Vermittlung identisch werden und das Soziale ins System re-integriert wird, dann kommt das Subjekt dieses Sozialen - die fast 400.000 Fans eines Kosmetik-Discounters beispielsweise - in den Besitz der Produktionsmittel. Wenn Unternehmen über ihre Logos, über Produktideen und über Preise abstimmen lassen, dann ereignet sich eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel (=Vermittlungsmittel). Denn die Logik, das Vermittelnde zum Produktiven zu machen,1 impliziert, dass die an der Vermittlung Beteiligten in den Besitz der Produktivkräfte kommen.
Allerdings ist dies nur unter der Voraussetzung möglich, dass das Subjekt des Sozialen diese Verschmelzung von Produktion und Vermittlung durchschaut, was wiederum bedeutet, dass es zuvor seine Konditionierung durchbricht. Das Soziale in den sozialen Medien ist also von utopischer Ambiguität, weil dieses Soziale hinter der manipulativen Entmachtung zu neuer Macht kommen kann, indem es sich als die Gesamtheit der Produktionsmittel einer zu ihrer Verwirklichung gekommenen idealen Idee des Kapitalismus erkennt.
Wir aber erkennen uns offenbar nicht konkret als Subjekte dieses Wandels und als Besitzer dieser Chance. Es gibt kein soziales Bewußtsein im Netz. Dies ist so, weil die Unternehmen die Diskurshoheit über das Soziale besitzen. Die Auswaschung der Substanz des Sozialen ist Indiz für eine Entpflichtung. Mit dieser Strategie folgt das ökonomische Denken einer Spur, die Karl Marx gelegt hat, indem er das Kapital als etwas Vermittelndes darstellte. Das Sprechen des Marktes über die sozialen Medien erfolgt auf dieser Spur. Was bei Marx das Kapital war, ist hier das Soziale. Das Soziale wird als ein immer erst zu Erzeugendes gesehen, als etwas, das sich im Vollzug selbst herstellt und vermehrt. Das Soziale ist in diesem Sprechen nichts unmittelbar Gegebenes und Verpflichtendes, sondern etwas Vermitteltes, etwas, das für sich selbst verantwortlich ist.
Damit hat die Logik des Marktes den Antagonismus der "sozialen Marktwirtschaft" aufgelöst und das Soziale ins System hineingenommen. Wenn das System dem Sozialen Spielraum lässt und den Schein von Autarkie aufrecht erhält, dann ordnet sich dieses widerspenstige Soziale freiwillig dem System unter, das es zugleich stillschweigend als leitend anerkennt. Wenn eine Gruppe von konsumkritischen Menschen, die Bücher wie No-Logo gelesen hat, über das Logo eines Unternehmens auf facebook abstimmt, dann folgt dies der gleichen Logik der subtilen Unterwerfung unter die Macht des Stärkeren wie der autonome Block, der vor der Demonstration auf einem G8-Gipfel bei McDonalds Brotzeit macht oder wie der Kniefall der ganzen Welt vor einem Steve Jobs bei gleichzeitiger Empörung über die Feinstaubzustände in chinesischen Fabriken. Das Problem dabei ist nicht das Brotzeit-Machen oder das Abstimmen über ein Logo oder das Telephonieren mit einem iphone, sondern die Unfähigkeit, die Entmachtung der sozialen Autonomie und Denkfähigkeit  überhaupt noch zu erkennen.
Das Bewußtsein des Sozialen diffundiert in einem System, das dem Sozialen Raum zur Selbstentfaltung lässt, sich aber das soziale Chaos, das durch diese plötzliche Freiheit entsteht,  zu eigen macht. Man könnte die sozialen Medien in der Sprache des Marktes als Hedge-Fonds des Sozialen bezeichnen, weil sie die Risiken, die das Soziale birgt, durch einen spekulativen Umgang mit diesem Sozialen selbst absichern. 
Die Paradoxie besteht dann darin, dass dieses Soziale gar nicht existiert. Der ökonomische Umgang mit dem Sozialen in diesen Medien ist nichts anderes als ein Leerverkauf. Der Markt handelt hier mit etwas, über das er zum Zeitpunkt dieses Handelns nicht verfügt. Und weil die Ressource des Sozialen unbeschränkt ist, ist dieser Leerverkauf unendlich. Die Steigerung eines Leerverkaufs ist ein unendlicher Leerverkauf. Dies ist die Überhöhung des Spekulativen ins Absolute. Es gibt keinen Zeitpunkt, an dem dieser Hedge-Fond des Sozialen verkauft werden muss. Deshalb lässt sich unendlich mit ihm spekulieren, ohne dass es auffällt, dass heißt: ohne dass sichtbar wird, dass er leer ist.
Das Bewußtsein des Sozialen ist dem Modus des Verschwindens unterworfen. Auch das ist kein nacktes Theorem, sondern erlebbare Praxis. Die sozialen Medien vermitteln kein Gefühl von Masse und Menge, von Gemeinsamkeit oder Zugehörigkeit, sondern jeder lebt hier für sich, folgt seinen Interessen oder Leidenschaften. Das Soziale formiert sich zufällig: als Zusammenstoßen von Menschen auf einer digitalen Kreuzung. In facebook hat sich die größte Menschenmenge zusammengetan, die auf dieser Erde jemals an einem Platz versammelt war. Und doch ist dieser Platz keine Agora. Diese Masse ist unsichtbar. Sie fühlt sich nicht selbst. Sie ist körperlos.
Das gilt auch für die Masse eines flashmobs. Der flashmob ist zu schnell, um ornamental zu sein. Auch ein flashmob ist eine Figur des Verschwindens - er ist eine sich selbst zum Verschwinden bringende Menge, kein Ornament. Der flashmob, der die McDonalds-Filiale leer kauft, ist ein perfektes Beispiel für die Ausbeutung der Ressource des Sozialen, die zugleich dem Gesetz des Leerverkaufs folgt, das besagt, dass dieses Soziale nicht sichtbar werden darf, weil es unendlich und offen und ungedeckt und daher auch subjektlos bleiben muss.
Diese Masse kann sich als Subjekt nicht wahrnehmen. Sie ist nicht handlungsfähig. Der Markt jedoch will diese Masse handlungsfähig machen, weil er ihre Ideen und Vorschläge hören will. Er muss ihre Kreativität freischalten. Deshalb erzählen die Marken Geschichten, deren Protagonisten wir sind. Deshalb ist der Raum der sozialen Medien ein von Adern der Narration durchzogener Sozialkörper. Deshalb also geben die community manager der Marken der Masse Rollen und Spielmotive vor. Die konturlose Masse heißt dann crowd, tribe, mob, nomads, clan und wird so konkret und geerdet. Narrative Form gibt dem Sozialen Gestalt und entzieht das Sakrosankte dem Zugriff. Verbindung wird durch narrative Strukur übersetzt in archaische Verbündung, in Stammesdenken. Dieser Rückgriff auf Momente des Archaischen, wie er sich in Begriffen wie tribe oder crowd ausdrückt, ist nicht nur ein Rollen-, sondern auch ein Sinnangebot, das mit der Faszination des Irrationalen spielt.
Auch so machen sich Marken sozial konvergent. Das Unternehmen, das von seinen crowds und tribes und nomads spricht, entpflichtet sich sozial, weil es sein Handeln und seine Ratio den Regeln dieser Stämme unterwirft und es ihnen selbst überlässt, sich zu organisieren. Es gibt die Ordnung des Irrationalen als sinnstiftend frei, indem es die Ordnung des Rationalen zum Verschwinden bingt. In crowds lassen sich dann Motive wie "Freiheit" und "Diversität" leicht als Lebensdevisen ausrufen.
Durch dieses archaische Spielangebot findet das unverbindlich-zukünftige Soziale der sozialen Medien zu einer Form und wird in einer verbindlichen Weise produktiv gemacht. Der digitale Nomade ahnt die Freiheit und lässt sich von ihr dazu verlocken, seine Weisheiten auszuplaudern. Diese Freiheit aber ist eine Rolle, die einer höheren Dramaturgie und einem unsichtbaren Szenario gehorcht. Wenn der digitale Nomade dieses Spiel annimmt, wenn er als digital nomad auf dem gleichnamigen Kanal von Dell Computers twittert oder blogt, dann wird er zu einem Mitarbeiter an einer Figur des Sozialen, deren Wert erst hinter der Kulisse des Theaters, in der Bilanz des Unternehmes, sichtbar wird.
Dies ist das narrative Muster des Neoliberalismus: Es verschlüsselt das Soziale fiktional und hält es dadurch als Idee offen, um es als endlose Ressource ausbeuten zu können.
Diese Einsichten könnten melancholische sein, wenn die Ebene der Marken-Narration die einzige Figuration des Sozialen in den Medien wäre. Doch mit den sozialen Medien hat der Kapitalismus auch die Möglichkeit eines institutionalisierten sozialen Bewußtseins geschaffen, das sich gegen ihn wenden kann oder das zumindest für einen Interessenausgleich sorgt.
Aber wie?

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Der erste Schritt besteht darin, das Soziale im Netz wieder zur Erscheinung zu bringen. Dies ist nur möglich, wenn man den Boden der Diskursethik verlässt, auf dem sich die mediale Vermittlung des Sozialen erst ereignen kann. Indem Unternehmen sich zu Moderatoren eines universellen Netzdiskurses gemacht haben, ist es ihnen gelungen, die Normen im Netz diskursiv aus dem Handeln der crowds und tribes abzuleiten, die sich in ihrer geliehenen Freiheit wohlfühlen. Die sich darin abzeichnende dialektische Funktionalisierung aufklärerischer Denkansätze und ihre Umkehrung in marktwirtschaftliches Funktionieren ist eine der genialen Schachzüge der neoliberalen Schule.
Scheinbar paradox ist also, dass man, um das Soziale in den Medien als echte Gemeinschaft zu retten, zu konservativen Theorien zurückkehren muss, in Abgrenzung zu denen die Diskursethik erst entstand. Man könnte hier zeigen, dass eine Entschlüsselung von facebook als Institution im Sinne Arnold Gehlens eine ganz neue Sichtweise zuließe. Als soziale Institution ist facebook kein Mediales mehr, keine Struktur, die das Soziale permanent verschiebt und dadurch von Verantwortung befreit, sondern eine stabile, verbindliche Struktur. Die technische Struktur facebook ist darstellbar als eine Stabilisierung unserer sozialen Imperfektion, als sozialer Organersatz. Facebook ist ein Instrument, um dem instinktmäßigen Trieb, mit dem wir den Marken folgen und ihren Geschichten lauschen, entgegen zu wirken.
Doch auch ohne den Rekurs auf das Institutionen-Modell Gehlens lässt sich ein Weg aus der narrativen Falle, aus dem Kreislauf des Fiktionalen aufzeigen. Man kann an drei Aktionsmuster denken, mit deren Hilfe sich die Ökonomie des digitalen Hauses als selbstbestimmte verwirklichen kann
Das erste Handlungsmuster muss darin bestehen, aus der Verbindung in den Modus der Verbündung zu kommen. Das ist mehr als ein Wortspiel. Verbündung als soziale Figur ist Verbindung der community-Mitglieder untereinander. Die soziale Figur der community errichtet dadurch ihre soziale Mitte, die momentan ein unsichtbarer Mehrwert besetzt hält. Die Ohnmacht der Masse in facebook besteht darin, dass sich diese Masse zufällig unter dem Dach einer Marke konstituiert und ausschließlich auf diese Marke und auf ihren Moderator ausgerichtet ist. So bleibt diese Masse subjektlos und handlungsunfähig. Erst wenn sie sich selbst entdeckt und erkundet, kann sie agieren. Das bedeutet aber auch, die eigene Privatsphäre in facebook dem sozialen Gedanken zu unterwerfen, die eigene Pinnwand für soziale Aktionen freizugeben. Das ist das positive Ende des Privaten. Aus dem privaten Netzwerk facebook wird ein soziales. Voraussetzung hierfür ist, dass der Gedanke der eigenen Pinnwand als virtueller Ausdehnung des privaten Raumes aufgegeben oder relativiert wird. Dieser Gedanke hält uns davon ab, die sozialen Medien zu einem Aktionsraum für das nicht-narrative Soziale zu machen.
Das zweite Handlungsmuster besteht darin, soziale Ornamente zu erzeugen, von der Verbündung zur Verbrüderung zu kommn. Denn auch die Verbündung als Vernetzung untereinander bleibt unsichtbar. Selbst wenn 400.000 Fans auf facebook untereinander vernetzt sind, entsteht daraus keine physische soziale Figur, die durch ihr bloßes Dasein einen Anspruch auf Autorität formuliert. Wie diese Ornamente im digitalen Raum aussehen könnten, ist nicht leicht zu sagen. Es müssen jedenfalls Figuren sein, die sich innerhalb des Raumes einer Marke aufbauen und dort Bestand haben. Es müssen Figuren sein, die das Spiel mitspielen: Kommentarabfolgen zum Beispiel oder Dialog- und Postingmuster, kommunikative Rituale also. Eine solche ornamentale Verbündung von 400.000 Kunden eines Unternehmens wäre eine ernstzunehmende ökonomische Größe, der man durchaus zutrauen kann, auf Entscheidungen des Unternehmens einzuwirken.
Das dritte Handlungsmuster besteht in subversiven Gegenspielen. Das subversive Gegenspiel ist eine koordinierte Anti-Narration, mit der die Gruppe auf den fiktionalen Entwurf des Unternehmens antwortet, ohne ihn zu zerstören - zum Beispiel, indem sie dem Unternehmen Aufgaben stellt oder kollektive Wünsche formuliert. Dieses Gegenspiel fordert die Fantasie genauso wie das digitale Ornament. Das Agieren der ornamental-digitalen Gruppe muss dabei ebenso gewaltlos sein wie das community management der Unternehmen. Denn: Die Macht dieser Gruppe hat nur so lange bestand, wie das Soziale als ein sich Unterwerfendes gesehen wird. Sobald es das nicht mehr wird, sobald es sich als agierendes enthüllt und aus dem Modus des Verschwindens heraustritt, verlieren die sozialen Medien ökonomisch an Bedeutung, weil dann die Unternehmen ihre Märchenstunde beenden.

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