14.07.2022

Die Ohnmacht des Geistes und die Macht des Geldes

Die Ohnmacht des Geistes und die Macht des Geldes

von Elisabeth Lenk

Elisabeth Lenk teilte die Auffassung, dass alle Erkenntnis in letzter Instanz auf ihre Gegenwart bezogen bleibt, dass sie ihren Zweck in der Erkenntnis der eigenen Zeit besitzt. Noch wenn sie, wie etwa in ihren Studien zur Traumsoziologie, die Archäologie einer Gesellschaftsstruktur betreibt, die im Zuge des neuzeitlichen Rationalisierungs- und Normalisierungsprozesses unwiderruflich verloren ging, geht es ihr um die gegenwärtige Gesellschaft und die Kritik an ihr. Gegenwärtigkeit des Denkens aber schließt Geistesgegenwart ein und damit das Vermögen, die Zeichen der Zeit blitzartig zu erkennen und adäquat auf sie zu reagieren. Auf dem Foto, das sie bei einer öffentlichen Vorlesung zeigt, ist ein solcher Moment von Geistesgegenwart eingefangen. Dieser spontan und mit hoher Geschwindigkeit verfasste Text, ein Gelegenheitstext, bestätigt das. (Rita Bischof, Juli 2022)

 

Meine Damen und Herren, wer am letzten Samstag in unserem voraufklärerischen Obrigkeitsblatt – ich meine die Hannoversche Allgemeine Zeitung – blätterte, dem ist vielleicht ein Artikel aufgefallen, der eigentlich recht harmlos klang: »Koalition streicht Sparauflage«, hieß es da. Die Hochschulen, so erfuhren wir, bekommen das weggesparte Geld wieder und sogar noch etwas obendrein, allerdings unter einer Bedingung: daß die Geisteswissenschaften von dem Segen nichts abbekommen. »Die 150 Professorenstellen, die umzuwidmen sind«, heißt es lakonisch, »sollen bei Lehramtsstudiengängen und Geisteswissenschaften eingespart« und – ich fahre in eigenen Worten fort – in marktwirtschaftlich rentable Fächer wie Informatik, Wirtschaftswissenschaften, Maschinenbau verlagert werden.1 150 geisteswissenschaftliche Stellen sind zum Abschuß freigegeben. Kein Zweifel, das Blatt gibt allerhöchste Meinungen und Hoffnungen wieder, wenn es hämisch hinzufügt, »Das dürfte heftige hochschulinterne Kämpfe auslösen.« Albrecht scheint den Ehrgeiz zu haben, seinen Kollegen Späth noch zu übertreffen, der ebenfalls die Geisteswissenschaften abschaffen möchte. Albrecht will die Endlösung. Noch vor Späth will er dem erstaunten Publikum stolz melden, daß seine Universitäten geistfrei sind.

Aber, meine Damen und Herren, ich glaube, er hat sich diesmal verrechnet.

Zweihundert Jahre nach der französischen Revolution geschieht etwas Neues. Überall in der Bundesrepublik haben sich die Generalstände der Wissenschaften versammelt und fangen an, über sich und ihr Verhältnis zur Bevölkerung nachzudenken. Dazu aber brauchen sie Geist. Geist ist das, was übrigbleibt, wenn man von der Intelligenz den verwertbaren Teil abgezogen hat. Er stellt müßige, unbequeme, aber auch sehr wichtige Fragen wie: Wozu erforscht ihr das? (Zum Beispiel die Gene) Was wird das für Folgen haben, nicht nur für den Markt, sondern für die Menschheit. Intelligenz wird verkauft, Geist wird verschenkt, woraus ganz schlaue Herren wie Albrecht schließen, daß man ihn umsonst haben kann. »Eulenspieglein an der Wand, wer ist der Dümmste im ganzen Land?«

Der HAZ-Artikel hinter dem (daran zweifelt niemand) die demokratisch gewählte und Gott sei Dank immer wieder abwählbare »Obrigkeit« steht, ist eine Kampfansage, nicht bloß an die Geisteswissenschaften, sondern auch an den Geist. In ihm atmet jener Geisthaß, den es in Deutschland noch gar nicht so lange gibt. Zu Goethes Zeiten liebten die Deuten den Geist und waren stolz auf ihn. Sie fühlten sich als Kulturnation, sie definierten und legitimierten sich durch Bildung, die sie großzügig allen mitteilen wollten. Erst seit Bismarck (und dem großen wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands, der mit der Reichsgründung einherging) ist das Gift des Geisthasses in dies Volk eingedrungen, das plötzlich gegen die Bildung, das heißt aber, gegen sich selber mobilisiert worden ist. Jeder der Bildung besitzt, und sei es zunächst auch nur auf einem ganz kleinen, naheliegenden Gebiet, wie dem der Ernährung, oder auf dem Gebiet des Umweltschutzes (wenn er beispielsweise über den Umweltwert jener hundertjährigen Linden informiert hat, die in Herrenhausen abgesägt werden sollen) ist ein potentieller Intellektueller, das heißt jemand, der nicht mehr alles glaubt, was in der Zeitung steht, der nicht alles nur passiv hinnimmt, sondern unbequem ist und sich einmischt.

Seinen vorläufigen Höhepunkt hatte der Geisthaß im Dritten Reich. Plötzlich wurden dem Geist und der Kunst Passierscheine abverlangt. Tragische, düstere, maßlose Themen gingen zu Händen der Sicherheitspolizei. Zarte, Hochgezüchtete, Müde kamen vors Erbgesundheitsgericht. Großen Malern wurde der Einkauf von Leinwand und Ölfarbe verboten. Blockwarte kontrollierten nachts die Staffeleien. Geist fiel unter Schädlingsbekämpfung. »Persönlichkeiten, gegen die man nichts einwenden könnte, wenn sie sich mit Schweinemast und Mehrproduktion beschäftigten, traten hervor [... ] und erhoben sich ins Allgemeine.« (So Gottfried Benn nach seiner Ernüchterung.) Es begann die Vertreibung des Geistes aus Deutschland, von der wir uns heute noch nicht wieder richtig erholt haben. Übrigens haben wir leider mit dem Entwicklungswissen auch den Geisthaß in die Dritte Welt exportiert. Überall sehen wir Intellektuelle, deren Werke verboten sind und die im Gefängnis sitzen. Ich nenne nur einen von vielen: Nabil Nanabi, den irakischen Schriftsteller, der für eine Lesung vor kurdischen Widerstandskämpfern 1976 in Mogul verhaftet und gefoltert wurde. Verbrechen lagen nicht vor, aber Gedichte:

 

Manche Herrscher halten das Wort
Gefangen
Schlagen es in Ketten, knebeln den Mund
Verweigern Zigaretten
Zeitungen
Und Bücher, sogar das Papier
Um seinen letzten Willen zu äußern
Und einen Stift zum Schreiben
Doch trotz aller Herrscher, trotz ihrer Macht
Trotz Radar und Raketen, die 
Des Dichters Himmel überwachen
Wird das Wort weiterfliegen
In die ganze Welt
Keine Macht kann es halten, kann seine
Ankunft auf einem Flugplatz vereiteln
Denn das Wort ist ein Vogel
Der kein Visum braucht
Für Freiheit
Und Demokratie.

Wenn man die Geisteswissenschaften abschaffte, bliebe nur Stummheit übrig, Stummheit der Zahl, Stummheit des Geldes und der Statistik. Es wäre eine kulturelle Katastrophe, denn die sprachliche Selbsterhaltung der Menschheit stünde auf dem Spiel. Es gab einst einen Dialog zwischen den Wissenschaften, zwischen den Künsten und sogar zwischen Wissenschaft und Kunst. Wie hat er unterbrochen werden können? Wie kam es zu all den Spaltungen, die uns so lange Zeit gelähmt und gegenüber dem Geisthaß ohnmächtig gemacht haben. Ich glaube, dass da ganz wesentlich die Macht des Geldes hineinspielt. Ich bin kein Betriebswirt, kann also nur ein impressionistisches Bild der Situation geben.

Minister und sogar Ministerpräsidenten lassen sich gern und oft mit ihren Gattinnen auf Ausstellungseröffnungen sehen, sie gehen auch hin und wieder in ein Galakonzert oder in die Oper. Orte, an denen Literatur gelesen wird, meiden sie! Und in die Universität setzen sie vorsichtshalber keinen Fuß. Als wir vor wenigen Wochen das zwanzigjährige Jubiläum der geisteswissenschaftlichen Fakultät  an der Universität Hannover feierten, schickte der Minister für Wissenschaft und Kunst ein langes Telegramm, in dem er umständlich und zynisch sein Bedauern darüber äußerte, daß er leider mit wichtigeren Angelegenheiten beschäftigt sei. Ähnlich wie mit den Politikern verhält es sich mit den Geldströmen. In Galakonzerte und Opern fließen sie. Und die Bildende Kunst ist in letzter Zeit sogar zu recht sonderbaren Ehren gelangt: Sie dient als Geldwaschanlage und wird von Immobilienspekulanten, Drogenhändlern und Waffenschiebern endgelagert in Safes. In Gedichte hingegen wird nirgendwo in der Welt investiert. Und auch die Universität ist abgemagert zum Skelett. Sie wird systematisch ausgehungert, bis auf ganz wenige Zweige, die sich marktwirtschaftlich rentieren und daher gepäppelt werden. Wo Geld erwartet wird, fließt Geld hin. Umgekehrt werden Künste und Wissenschaften in dem Maße von Geldleuten und Politikern gemieden, als sie sich dem Geist annähern.

Wenn Künste und Wissenschaften sich wieder auf den Geist besännen, der sie hervorgebracht hat, wenn sie zusammenhielten, würde vielleicht auch breiten Bevölkerungskreisen wieder die Überzeugung vermittelt, daß der Geist wichtiger ist als die Macht, einschließlich der Macht der Wirtschaft, dass der Geist über ihr steht. Ich rufe daher die Kunstvereine und Kunstgesellschaften von Hannover auf, sich mit den bedrohten Geisteswissenschaften zu solidarisieren. Die Naturwissenschaften – und wie man sieht die Rechtswissenschaft – haben es bereits getan. Künstler und Wissenschaftler sollten sich nicht in Sicherheit wiegen, auch wenn sie zu denen gehören, die man heute noch als marktgängig duldet. Der Geisthaß ist schon einmal in einen Holocaust an Wissenschaft und Kunst umgeschlagen.

Mitten im ersten Weltkrieg hat der Schriftsteller Heinrich Mann das Idealbild der kommenden deutschen Demokratie entworfen: »Die Macht ist unnütz und hinfällig«, schreibt er, »wenn nur für sie gelebt worden ist und nicht für den Geist, der über ihr ist. Wo nur noch an die Macht geglaubt wird, eben dort hat sie [die Demokratie] aufgehört zu sein.«

Eine Demokratie, die den Geist nicht über die Macht stellt, über die Macht der Waffen und des Geldes, ist nur noch das Gerangel korrupter Gruppen um Beute. Wenn es den Wissenschaften und Künsten gelänge, dies Bewusstsein der Mehrheit der Bevölkerung zu vermitteln (und ich glaube ein solcher Prozeß ist in Berlin, aber auch in Hannover und anderswo in Gang gekommen), hätten wir zum ersten Mal in der deutschen Geschichte eine echte Demokratie.

Die 1937 in Kassel geborene Elisabeth Lenk studierte in Frankfurt und Paris Philosophie, Soziologie und Literaturwissenschaft bei Theodor W. Adorno und Lucien Goldmann. Die Zeit ihrer Promotion wurde von einem regen, inzwischen veröffentlichten Briefwechsel zwischen Adorno und ihr, zwischen Frankfurt und Paris, begleitet. Lenk war aktives Mitglied des SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) und kam in Frankreich mit André Breton und den Surrealisten und später auch mit den Situationisten in Berührung. Nach der Promotion wurde sie 1970 wissenschaftliche Assistentin am Seminar für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin bei Peter Szondi. Von 1976 bis zu ihrer Emeritierung 2006 lehrte sie am Deutschen Seminar der Leibniz Universität Hannover. Elisabeth Lenk verstarb im Juni 2022 im Alter von 84 Jahren in Berlin.

 

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Erstveröffentlichung in: Niemandsland. Zeitschrift zwischen den Kulturen, Berlin, Juli 1989.

1 Aus diesem Anlass entschlossen sich 1988 einige Geisteswissenschaftler, mit einer öffentlichen Vorlesungsreihe auf dem Platz vor dem Hauptbahnhof ihre Lage der Öffentlichkeit klar zu machen. Elisabeth Lenk war eine davon. Das Foto ist eine Momentaufnahme aus ihrer Lesung. 

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