14.03.2023

Füttert die Geister

Füttert die Geister

Einige Gedanken zu Schöne Geister von Anton Artibilov

von Joshua Groß

 

Obwohl es Literatur in einem quasi heiligen Spektrum verschiedenster Ausführungen gibt, kommt es mir häufig so vor, als würde das, was wir als »gute« oder (trauriger) »angemessene« Literatur akzeptieren, in einem sehr kleinen, überschaubaren Korridor passieren. Vielleicht ist das mein persönliches Problem, vielleicht auch nicht. Es ist nicht vonnöten, der »guten« Literatur literarisch »schlechte« entgegenzusetzen, wohl aber dem »heiligen Spektrum« ein »unheiliges«.

Unheilig gegenüber der Lawine unseres grobmotorischen, unflexiblen Korridornormativismus. Nur weil wir Lawinen sind, können wir auch Korridore sein. Was macht eine Landschaft gegen Lawinen? Sie schüttelt sie von der Schulter, lockt sie in Täler. Was machen wir gegen Lawinen, die wir selbst sind? Wir lesen Schöne Geister von Anton Artibilov. Ein Buch, das aus Notizen, Posts, Erzählungen und diversen Erörterungen philosophischer Problematiken besteht.

Die Posts sind im Grunde klassische Facebook-Posts: Ich-Berichte, vorgetragen in einer scheppsen Sprachlogik, akkupunktiert von Einbrüchen des Idiosynkratischen, Einbrüchen der Unachtsamkeit, Einbrüchen der Autokorrektur, Einbrüchen des Genausogewollten. Das ist nicht per se ungewohnt, diese Sprachlogik, wir lesen sie permanent im Netz und schmunzeln (schlimme Menschen kommentieren hyperventilierend Korrekturen darunter). Dass diese eingebrochenen, idiosynkratischen Sprachlogiken in einem Buch abgedruckt werden, könnte uns erstaunen, obwohl es uns nicht erstaunen sollte. Wir haben fixe Vorstellungen von Literatur, das ist schade. Was man darüber hinaus konstatieren könnte: Die Ichs, die in Schöne Geister berichten, sind fast willkürliche, unantastbare Ichs, sie berichten irgendwelche Berichtsschnipsel – zusammengetragen aus unterschiedlichsten Foren vielleicht, aus unterschiedlichsten Vorstellungswelten, aus unterschiedlichsten Lebensphasen, aus unterschiedlichsten Epochen. Anton Artibilov schreibt wie ein Gestaltwandler, nicht wie ein kuratorisches Ich (Subjekt) oder ein performatives Ich (Subjekt), obwohl er natürlich sowohl ein Gestaltwandler als auch Kurator als auch Performer ist. Er gestaltwandelt durch Erzählstimmen und Zeiten und Menschen, er prallt ab an Formulierungen, er knallt gegen Zeichen, er zersplittert an der »guten« Literatur, er bekommt Migräne von Metatexten, Querelen von Quelltexten, er macht mit der Hand Spiegelbrecher, um weiterführende Links zu zerstören. Das ist sympathisch und bezirzend und notwendig. Außerdem ist es lustig und erhellend. Beispielsweise wird die vorausgesetzte Heiligkeit einer privaten Meinungsäußerung im Internet umgestülpt. Es ist nicht heilig, seine Meinung im Internet zu äußern. Stattdessen könnte man sagen: Bei Anton Artibilov verschiebt sich der Fokus von der pseudoheiligen Meinungsäußerung zum unheiligen Menschen, der eine Meinung äußert.

Na ja, und dann gibt es fast klassische Kurzgeschichten, die Lebenssituationen schildern wie das Miterleben eines Suizids, wie die Arbeit im Freizeitpark, wie Adoleszenz, wie das Nachtwächterdasein, wie das Erwischtwerden beim Fremdgehen, wie das Animieren von CGI-Sequenzen. Egal, wer die Figuren sind – namenlose Angestellte, berühmte Astronauten, Fabelwesen –, zumeist lassen uns diese Erzählungen ganz primitiv im besten Sinne das Menschsein nachempfinden, nachempfinden, obwohl wir selbst Menschen sind. Aber wir merken, dass wir vielleicht nicht ganz menschlich sind, nur zu 99,7% vielleicht. Die Erzählungen von Anton Artibilov kommen mir wie Captchas vor, durch die wir unser Menschsein unter Beweis stellen und bezeugen. Sie fühlen sich elementar an, trotz ihres Spintisierens. Gerade aufgrund ihres Spintisierens natürlich. Anstatt den schönen Texten anheimzufallen, wollen wir lieber den schönen Geistern anheimfallen: »Das klang nicht wirklich sinnvoll, aber auf Anhieb fiel mir auch nichts ein was man einwenden könnte, noch dazu wenn das bedeutet hätte sich selbst wegzurationalisieren.« Das denkt eine Figur, die als Nachtwächter eingestellt wurde, um einen unspektakulären Innenhof zu beobachten, weil, wie es beim Vorstellungsgespräch heißt, »man müsse sowieso jemanden bezahlen der sich die Kameraaufnahme anschaut und dann kann er ja auch gleich dort sitzen«. Es gibt ein Vakuum zwischen Mensch und Maschine: Was Menschen noch nicht beendet haben, haben Maschinen noch nicht begonnen. Oder: Was Menschen schon mehrmals begonnen haben, haben Maschinen mehrmals noch nicht beendet. In diesem Vakuum wohnen augenscheinlich die schönen Geister. Nicht wirklich sinnvoll – wie unser dämliches Existieren selbst.

Ich bin auf Anton Artibilov aufmerksam geworden, als mir im Februar 2021 auf Facebook sein Mixtape Der Arbeitsmarkt ist übersättigt (veröffentlicht unter seinem Rappernamen Joseph Steinschleuder) in die Timeline gespült wurde – mich elektrisierten, entertainten, poetisierten sofort Passagen wie die Folgende:

 

»Aber nein, unterdrücke deinen Instinkt
der Mensch ist ein Wesen
Denk daran, mein Kind
guck dir diesen Bratschinken an
es war vorher ein Mann
ich hab nur einen Joke gemacht
es war vorher ein Schinken, es ist nachher ein Schinken
einer fällt in den Fluss, alle ertrinken
verstehst du diese Analogie?«

(galgap)

Rap in komplettem Non sequitur. Wild gewordenes, existenzialistisches Philosophieren, durchdrungen von Punchlines, eher den Logiken des fantasievollen Verstands folgend als den Logiken der fantasielosen Textgattung.

 

 

Was davon auch in Schöne Geister auftaucht, könnte man unter Umständen als hypochondrisches Erzählen bezeichnen. Einerseits ganz konkret (die Figuren haben fast hypersensible Befürchtungen permanent), andererseits eher ontologisch (die Fragilität der Frage, ob der Mensch wirklich ein Wesen sei, ob er wirklich menschlich sei, ob er vielleicht etwas ganz anderes, Bedrohliches sein könnte, ein Bratschinken beispielsweise, ist andauernd spürbar).

Eine Schinkenlawine stürzt ins Tal, nach allen Prämissen, die die Physik für uns bereithält, sie bildet einen Korridor, einen sehr engen Korridor. Wie schinkenhaft kann ein Korridor sein?, fragen wir uns, die wir selbst die Schinkenlawine sind. Wie pseudoheilig kann man sein? Wie ziellos fühlen wir uns auf unserem Weg nach unten?, fragen wir uns laut schreiend. Sehr ziellos. Wir dürfen keine Schinkenlawine bleiben, sonst endet es schlimm. Das spüren wir. Wir müssen uns verwandeln, das steht fest. Und wenn es möglich ist, dass wir uns verwandeln, dann hoffentlich so, wie es Anton Artibilov beschreibt: »Am Ende fühlt man sich wie eine umgetopfte Pflanze, weil in dem vorherigen Topf kein Platz mehr war.«

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