01.03.2022

Verleger Andreas Rötzer im Gespräch mit Übersetzerin Claudia Hamm über Emmanuel Carrères aktuellen Roman »Yoga«

Verleger Andreas Rötzer im Gespräch mit Übersetzerin Claudia Hamm über Emmanuel Carrères aktuellen Roman »Yoga«

Andreas Rötzer: Alles ist wahr lautet der Titel eines Romans von Emmanuel Carrère, der auch programmatisch für sein Schreiben steht. Was ist daran wahr, und gilt das auch für Yoga?

Claudia Hamm: Emmanuel Carrère hat seit etwa zwanzig Jahren einige Spielregeln für seine Bücher entwickelt: Sie sind keine Fiktionen (deshalb lehnt er die Bezeichnung »Autofiktion« für seine Literatur auch ab). Sie sind aus der Perspektive eines Ichs erzählt. Und sie handeln von realen Personen und Ereignissen – dazu gehört auch das Verfassen der Bücher selbst, ihr Entstehen ist immer auch Teil der Erzählung. Das ist ein Angebot an den Leser, das besagt: Was ich euch erzähle, ist vielleicht nicht die Wahrheit, aber es ist das, was ich von ihr verstanden habe. Ich wünschte, ich könnte mehr garantieren, aber ich kann es nicht, weil ich ein Mensch bin, in seinen Grenzen. In dem genannten Buch versichert Carrère: »Alles darin ist wahr«. Trotzdem hängen sämtliche Beschreibungen natürlich von seiner persönlichen Vorstellung und Deutung ab, wir haben ja gar keine andere Möglichkeit der Wahrnehmung als unsere subjektive – ich sehe hier eine Nähe zu Carrères Namensvetter Immanuel Kant und dessen Frage: »Was können wir wissen?« Aus wahren Begebenheiten das Romanhafte herauszuspüren und Im Gespräch mit Claudia Hamm über Emmanuel Carrères Yoga vi herauszuschreiben, genau das ist Carrères Expertise und Talent. Er versucht in seinen Texten aber immer mitzuliefern, ob etwas berichtet, vermutet oder erfunden wird. Das ist ihm äußerst wichtig, immer wieder beschreibt er sich als hochmoralisches Wesen – selbst wenn oder gerade weil er nicht immer moralisch gut handelt. »Warum tue ich nicht das Gute, das ich liebe, sondern das Böse, das ich hasse?«, fragt er sich mit Paulus nicht nur in Das Reich Gottes. In Yoga formuliert er sein Credo so: Die Literatur ist der Ort, an dem man nicht lügt.

AR: Und hält er sich daran? Beim Erscheinen der französischen Ausgabe entstand ja eine große Debatte um Wahrheit und Lüge in diesem Buch.

CH: Das Problem ist: Es gibt verschiedene Begriffe von Wahrheit. Im Anhang meiner Neuübersetzung von Der Widersacher – das war Carrères erster Tatsachenroman in Ich-Perspektive über einen krankhaften Lügner – findet sich eine Art Rückblick auf zwanzig Jahre »Wahrschreiben«. In dem Gespräch, das ich damals mit Carrère geführt habe, beschreibt er verschiedene Arten von Wahrheit, ich versuche mal zu sortieren: die faktische, die auf unumstößlichen Tatsachen beruht und für alle gleich ist, selbst wenn wir sie in vielen Fällen nicht kennen. Dann die persönliche, die eine emotionale Qualität hat und deshalb eher eine gefühlte Wahrheit ist – in Yoga arbeitet sich Carrère z. B. daran ab, dass ihm alles Dunkle »wahrer« erscheint als alles Helle. Dann gibt es die Wahrheit, die zur Kategorie der Weltanschauung gehört, die historisch veränderlich ist, eine politische und gesellschaftliche Konstruktion. Es gibt die, die von der Sprache abhängt und über die Nietzsche sagt: »Die Wahrheit ist ein Heer von Metaphern«, denn je nach Darstellung können wir etwas als wahr erscheinen lassen oder nicht. Es gibt die philosophische im Sinne einer Aussagenlogik. Und dann eine metaphysische Wahrheit, die die Frage herausfordert: Wie sollen wir leben? Auf welchen Horizont müssen wir zusteuern? Was wiederum an Kants zweite Frage erinnert: »Was sollen wir tun?« Nehmen wir noch seine dritte und vierte hinzu: »Was dürfen wir hoffen?« und »Was ist der Mensch?«, dann haben wir den Unterstrom, der jedes Carrère-Buch durchzieht. Und der, weil es so dringliche, existenzielle Fragen sind, auch den immensen Sog erzeugt, den diese Bücher ausüben. Als Carrère Yoga schrieb, befand er sich allerdings in einem Dilemma. Es gibt eine klaffende Lücke in diesem Buch: die Trennung von seiner Ex-Frau Hélène Devynck. Bei der Scheidung hatte Carrère sich juristisch verpflichtet, sie und die gemeinsame Beziehung nicht mehr literarisch zu verarbeiten. Und deshalb schreibt er: »Von diesem Buch kann ich nicht sagen, was ich stolz von vielen anderen gesagt habe: ›Alles darin ist wahr‹. Ich muss manches ein wenig verdrehen, umstellen oder aussparen, vor allem aussparen, denn über mich kann ich sagen, was ich will, einschließlich der unvorteilhaftesten Dinge, aber nicht über andere. Ich nehme mir nicht das Recht dazu und habe auch gar nicht den Wunsch, hier von einer Krise zu schreiben, die nicht das Thema dieser Erzählung ist, und deshalb werde ich durch Auslassung lügen.«

AR: Ist es denn Lügen, wenn man etwas nicht erzählt?

CH: Auslassen »lügen« zu nennen entspricht Carrères Verständnis von persönlicher Wahrheit; seine Ex-Frau allerdings warf ihm genau das vor. Das Verdrehen, Umstellen und Aussparen – das er im Buch ja selber offenlegt und das sich aus dem Scheidungsvertrag ergab – sei doch aber faktisch genau das gewesen: lügen; dieser Streit ging durch die Feuilletons. Jeder, der seine eigene Geschichte zum Material für Literatur nimmt, stößt ständig auf das Problem: Wir leben einander. Miteinander, gegeneinander, füreinander, nebeneinander. Autobiografische Literatur speist sich aus diesen Einanders und dem Erzählen davon. Das Schweigen, das in Yoga nun über diese Beziehung herrscht, entfaltet deshalb eine ganz eigene Dunkelheit. Aber vielleicht sind die Leerstellen ja auch die angemessenste Form für den Abgrund, in den Carrère danach gestürzt ist und über den er unter anderem schreibt.

AR: Emmanuel Carrère praktiziert seit Jahrzehnten Yoga, versteht darunter aber etwas ganz anderes als die herkömmliche »Gymnastik«. Er beschließt, ein kurzweiliges Büchlein darüber zu schreiben, das nie zustande kommt, aber in Yoga durchaus präsent ist. Wie nebenbei erfährt man Erstaunliches über Meditationsformen und das, was sie eröffnen, aber auch das, was zweifelhaft an ihnen ist. Doch es gibt noch eine andere Ebene. »Yoga« bedeutet im Wortsinn: zwei wiederstrebende Kräfte unter ein Joch zwingen. Könnte man darin ein verstecktes Prinzip des Buchs sehen?

CH: Absolut. Wenn man die wörtliche Bedeutung von »Yoga« kennt, ist dieses Prinzip ja auch gar nicht versteckt, sondern wird schon mit dem Titel angekündigt. Tatsächlich erzählt Yoga von den Polaritäten des Lebens, die einander entgegenstehen und zugleich bedingen: Tag und Nacht, Aufruhr und Gelassenheit, Tod und Leben, Fülle und Leere … In den chinesischen Begriffen Yin und Yang ergänzen sich diese Prinzipien. Das ist beruhigend. Ist man sich bewusst, dass nichts statisch ist und für immer bleibt, kann man etwas Abstand zum eigenen Ego gewinnen, das dazu tendiert, Dinge zu verabsolutieren. Das ist großartig, entspannend, absolut wünschenswert! Carrère erzählt davon auf sehr leichtfüßige und durchaus selbstironische Art, das erste Großkapitel ist seinem Streben nach diesem »Upgrade« seiner selbst gewidmet. Doch dann kommt der Absturz. Als sein Leben kippt – durch eine unkontrollierbare Leidenschaft, durch seinen dunklen Hang zur Selbstzerstörung, durch Trennung, Terrorismus und Tod in seinem persönlichen und gesellschaftlichen Umfeld, kurz: durch das Gegenteil von Leichtfüßigkeit – und er in eine äußerst schwere psychische Krise stürzt, bekommen diese Prinzipien einen anderen Namen: Bipolarstörung Typ II. Das heißt: Der Wechsel zwischen den Polen ist so extrem, dass er als krankhaft gelten muss. Und das bedeutet: Glück kündigt bereits Verzweiflung an und die Verzweiflung immer nur zweifelhaftes Glück. Aber neben allen Bodenlosigkeiten gibt es auch wieder dessen Gegenteil. Die berührende Begegnung mit noch viel existenzieller Bedrohten zum Beispiel: jugendlichen Geflüchteten. Und den Halt, den die Kunst verschafft, die Musik, das Schreiben … die Liebe. Und irgendwie gibt es all das sogar zugleich. Denn auch das lehrt Yoga: Gegensätze schließen sich nur scheinbar aus, sie existieren auch nebeneinander. Deshalb ist Yoga kein Handbuch über Yoga, sondern die Erzählung vom mal beherrschten, mal entfesselten Schwanken zwischen den Polen. Yoga balanciert sie aus. Und damit macht das Buch, was es ankündigt: Yoga. Entgegengesetztes in dasselbe Joch, nämlich denselben Buchdeckel, einspannen.

AR: Emmanuel Carrères Bücher – etwa Limonow über den gleichnamigen russischen Schriftsteller oder Das Reich Gottes, sein Roman über Glauben und Unglauben und das frühe Christentum – entwickeln einen starken Sog, sie sind raffiniert durchkomponiert und folgen einer fast filmischen Dramaturgie. Yoga entwickelt diesen Sog über ganz andere Mittel.

CH: Ja, was die Montage der Themen und Einzelerzählungen angeht, geht Carrère einen ganz neuen Weg, der der Unruhe des Bewusstseinsstroms, die Yoga ja eindämmen soll, entspricht: Innerhalb von fünf Großkapiteln gibt es zahlreiche Unterkapitel. Was ergibt das für ein Bild? Ein Mosaik, das einzelne Teile zu einem Ganzen fügt, oder ein Abbild vom Irrlichtern unserer Gedanken, von der Zersplitterung der Wahrnehmung und der Welt? Das wird jede und jeder anders lesen. Literarisch gesehen ist die Montage der unterschiedlichen Episoden aber auch in diesem Buch äußerst präzise. Wie sie zusammengestellt sind, ist alles andere als zufällig. Und nach jeder von ihnen gibt es leeres, weißes Papier, das wie ein Black im Film wirkt. Es sind die Orte für Brüche, für Ungesagtes und Unsagbares. Sie gehören genauso dazu wie alles Erzählte. Und machen die Musik dieser Komposition aus. Aus welcher Stille kann sich Sprechen überhaupt erheben? Und wohin kehren wir zurück, wenn dieses aufhört?

AR: Ja, auch in diesem Buch gibt Carrère seine Kompositionsprinzipien preis: Ein Buch, erzählt er, entsteht bei ihm zunächst wie der Rohschnitt im Film aus unterschiedlichstem Material, danach folgt die Bearbeitung, bis der berühmte Sog entsteht.

CH: Genau, aber wie er entsteht, ist natürlich die große Frage. Was mich beim Übersetzen dieser Bücher immer wieder fasziniert und herausfordert, sind die Übergänge zwischen den Wörtern und Sätzen. So fragmentiert die Themen auch sein mögen, so sprunghaft sie auch immer wechseln, in und zwischen den Sätzen entsteht ein Bewusstseinsstrom, den man im Deutschen mit anderen sprachlichen Mitteln herstellen muss. Als ich mich für manche Entscheidungen vor Jahren bei Carrère einmal rückversichern wollte, sagte er mir etwas, das für mich wie ein Mantra für seine Literatur ist: »Mach, was du willst, aber mach, dass der Strom fließt.« Denn dieser Strom ist auch die Verbindung zur Leserschaft, die Verbindung zur Welt, eine Art Lebensenergie, im Erzählen werden alle und alles in Beziehung gesetzt.

AR: Die Begegnung mit jungen Geflüchteten ist eines der fünf Großkapitel von Yoga. Im Mittelpunkt von Emmanuel Carrères Brief an eine Zoowärterin aus Calais stand ebenfalls die Flüchtlingskrise. Doch während Carrère dort keinen direkten Kontakt zu den Geflüchteten suchte, wählt er in Yoga fünf Jahre später einen anderen Weg: Er gibt den Jugendlichen Schreibunterricht und lässt sie ihre Geschichten erzählen.

CH: Der Brief an eine Zoowärterin aus Calais war eine Reportage und unterlag als journalistischer Text anderen Prinzipien hinsichtlich des Sujets, der Länge, der Recherchezeit und der Rolle dessen, der darin spricht. Wie in jedem Text fragte sich Carrère auch darin nach dem Verhältnis, das er selbst zu seinem Stoff überhaupt einnehmen kann. Yoga dagegen ist ein Roman. Es gab eine längere und sehr persönliche Begegnung mit den Porträtierten, die ja auch über das Medium Erzählung verlief. Es gab einen ganz anderen Widerhall der Geschichten dieser Jugendlichen im Ich des Erzählers, der in seiner Prosa ja immer auch selbst Figur ist. Hier stehen verschiedene Formen des Leids und der Bewältigung von Leid nebeneinander. Die politische Dimension ist zwar der Rahmen, aber noch mehr geht es um das Menschsein, um das, was ein Mensch ertragen, und das, woraus er Kraft schöpfen kann. Carrère erkennt in den Flüchtlingsschicksalen und -hoffnungen etwas von der Kreatürlichkeit und den innigsten Wünschen und Bedürfnissen eines jeden von uns. Etwas von unserer nackten Existenz.

November 2021

Claudia Hamm Potrait © Micheal Donath

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