23.02.2011

Nathalie Mälzer-Semlinger: »Langage fou« und »langage littéraire« – Zur späten Entdeckung von Maurice Blanchots Roman »Der Allerhöchste«

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Dreiundsechzig Jahre nach seinem Erscheinen in Frankreich liegt Maurice Blanchots Roman Le Très-Haut nun erstmals auf Deutsch vor. Dieser beachtliche zeitliche Abstand könnte Anlass geben, über die Ursachen für diesen »retard de traduction« zu spekulieren. Tatsächlich fallen einem gleich mehrere mögliche Gründe ein: etwa die schillernde, von Widersprüchen geprägte Biographie des 1907 geborenen Autors[1]. So ließ sich Blanchot in den 30er Jahren zunächst von nationalrevolutionären Tendenzen verführen und schrieb als Literaturkritiker und politischer Journalist Artikel für die rechtsgerichtete Presse um Thierry Maulnier, wie die Journal des débats, Combat, L’Insurgé oder die Revue du Vingtième Siècle, die »gegen Demokratismus« und »kapitalistischen Materialismus« kämpfte. Später vollzog Blanchot eine geistige Kehrtwende und wandte sich der Linken zu. Trotz seiner Faszination für die Extreme verband ihn zeitlebens eine enge Freundschaft mit dem jüdischen Philosophen Emmanuel Lévinas.

Ein weiterer Grund für die späte Rezeption von Blanchots Werk könnte der Ruf seiner Texte sein, die als hermetisch, dunkel, sperrig gelten, und damit so gar nicht in das deutsche Erwartungsschema gegenüber französischer Literatur passen, die auch heute noch gern mit Begriffen wie clareté, esprit und spielerischer Leichtigkeit beworben wird. Die Einflüsse von deutschen Dichtern und Denkern auf Blanchots Schriften sind unübersehbar. Er selbst beruft sich ebenso auf Kafka, Heidegger oder Nietzsche wie auf Mallarmé, Paulhan oder Valéry. Vielleicht hat aber auch der Umfang des Buches mit seinen gut 400 Manuskriptseiten auf potenzielle Verleger und Übersetzer abschreckend gewirkt.

Als sich der Verlag Matthes & Seitz Berlin dafür entschied, dieses Buch aus der literarischen Versenkung zu heben, und mich fragte, ob ich Interesse hätte, es ins Deutsche zu übertragen, beschäftigte mich neben der Frage, wie sich ein bekanntermaßen schwieriger Autor übersetzen ließe, auch ein Argwohn gegenüber diesem speziellen Text. Er hing damit zusammen, dass es sich bei Le Très-Haut um den dritten und letzten Roman dieses Schriftstellers handelte. Danach kehrte sich Blanchot von der Gattung Roman ab, schrieb nur noch vereinzelte Erzählungen und konzentrierte sich schließlich auf essayistisches Schreiben. War das vielleicht ein Hinweis darauf, dass er mit diesem narrativen Format unzufrieden gewesen war und sich deswegen anderen literarischen Formen zuwandte? Um diesen Text zu übersetzen, war es daher wichtig, der Frage auf den Grund zu gehen, welchen Stellenwert Le Très-Haut im Gesamtwerk des Autors hat und welchen Raum es in der bisherigen Blanchot-Rezeption einnimmt.

Immerhin hat, begleitet von einer aufmerksamen Presse, in den vergangenen Jahren eine verstärkte Übersetzungstätigkeit eingesetzt, in verschiedenen Verlagen und unter Beteiligung unterschiedlicher Übersetzer. Dadurch wurde den deutschen Lesern erstmals ein breiterer Zugang zum Œuvre eines Schriftstellers möglich, den man bislang meist nur vom Namen her kannte – es gab ein Werk zu entdecken, das bis heute wie ein Monolith in der modernen französischen Literatur steht und einen starken Einfluss auf den Nouveau Roman sowie auf dekonstruktivistische Literaturtheorien ausgeübt hat.

Doch was ist das Interessante an diesem Text, diesem dritten und letzten Roman Blanchots, der in Deutschland auch in akademischen Kreisen weitgehend unbeachtet blieb?

Zum einen sind es die zeitlosen Themen wie Wahnsinn, Epidemie und totalitärer Staat, die auch für heutige Leser nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Henri Sorge (die Figur heißt auch so im Original), treuer Staatsbeamter in einem totalitären Staat, erkrankt an einem mysteriösen Leiden und quittiert seinen Dienst. Er lernt eine kleine Gruppe von Aufständischen kennen, die den Staat bekämpfen, versucht allerdings, sie von der Nutzlosigkeit ihres Tuns zu überzeugen. Sorges anfängliche Begeisterung für das Gesetz und den Staat wandelt sich allerdings in Skepsis, er beginnt sich dem Schreiben zu widmen, wird dabei immer häufiger von Wahnsinnsanfällen geplagt, die die Welt um ihn herum aufzulösen scheinen. Das Desaster, der Zusammenbruch, dem er beiwohnt, findet dabei sowohl in der fiktiven Welt als auch auf sprachlicher Ebene statt.

Genau hier liegt das Faszinierende und zugleich Beunruhigende dieses Buchs, das sich der ersten Frage, die ein Übersetzer an einen Text stellen muss, entzieht: der Frage nach seiner Gattungszugehörigkeit. Wer anfängt dieses Buch zu lesen, wird zwar auf den ersten Blick den Eindruck gewinnen, die Bezeichnung »Roman« sei richtig: Wir haben es mit einer fiktiven Welt zu tun, es gibt einen Ich-Erzähler und diverse andere Figuren, die an einen fiktiven Ort versetzt sind. Doch schon das Motto, das Blanchot seinem Text voranstellt, kratzt an dieser glatten Romanfassade: »Begreifen Sie doch: alles was von mir kommt, ist für Sie nichts als Lüge, denn ich bin die Wahrheit.« Diese paradoxe Aussage ist zugleich ein Zitat der Figur Henri Sorge und ein Hinweis darauf, dass wir es mit keinem gewöhnlichen Roman zu tun haben. Schon nach wenigen Seiten bestätigt sich der Eindruck, dass hinter den fiktiven Dialogen zwischen den Figuren nicht nur die Absicht steckt, eine Handlung voranzutreiben und Konflikte zu entwickeln, sondern dass sich in ihnen auch ein sprachphilosophisches Denken entfaltet und exemplifiziert.

Die besondere Herausforderung dieses Textes an den Übersetzer liegt darin, ihn nicht nur als Roman zu verstehen, sondern ihn auch in seiner Scharnierfunktion zwischen den fiktionalen und nicht-fiktionalen Schriften Blanchots zu begreifen. In Le Très-Haut vollzieht sich ein Übergang vom Roman zum Metaroman, der seine eigene Kritik birgt. Er ist sowohl fiktive Narration als auch Sprachkritik, die sich im Text auf mehreren Ebenen ansiedelt. Diese Umstände machen das Werk so interessant und für den Übersetzer auf besondere Weise verzwickt. Für ihn mag das vorangestellte Motto wie eine Warnung vor jeglicher Entscheidung klingen, die nur die Romanebene oder nur die Metaebene in Betracht zöge: »Ich bin eine Falle für Sie«.

Roman und Metaroman

Was aber macht diesen Text zu einem Zwitterwesen zwischen Roman und Metaroman?

Auf der Ebene der Geschichte bietet Le Très–Haut, wie bereits erwähnt, fiktive Figuren und einen fiktiven Ort: eine Stadt, die Ähnlichkeiten mit Paris aufweist, einen Erzähler — und zwar einen homodiegetischen Ich-Erzähler, der mit den verschiedenen Figuren immer wieder ins Gespräch kommt. Auch gibt es mehrere Konflikte: die Bedrohung durch eine Epidemie, von der man jedoch nicht weiß, ob sie mehr ist als ein vom Staat gestreutes Gerücht oder eine Wahnvorstellung des Erzählers, und die Bekämpfung eines totalitären, ubiquitären Staates durch die Aufständischen. Henri Sorge gehört zu einer politisch einflussreichen Familie – sein Stiefvater bekleidet offenbar das höchste Amt im Staat –, Sorge ist jedoch weder Held noch Anti-Held, sondern handelt gar nicht und wird eher zum Nicht-Helden, zur passiv erduldenden, kontemplativen Figur, die beschließt, ihre Begeisterung für das Gesetz und den perfekten Staat niederzuschreiben. Doch mit der Umsetzung des Projekts scheitert dasselbe auch. Sorges Faszination für den Staat kippt. Im Verlauf seiner Krankheit versucht er die Rebellen von der Vergeblichkeit ihres Unterfangens zu überzeugen und legt ihnen die Dialektik des Gesetzes dar, das den Verstoß braucht, um gefestigt zu werden und seine Macht auszubauen. Alles, was dem Staat zu schaden sucht, stabilisiert ihn im Grunde, bis man nicht mehr weiß, wer auf der Seite des Staats und wer auf der seiner Gegner steht. Der totalitäre posthistorische Staat saugt alles in sich auf.

Die einzige Möglichkeit, sich dieser Dialektik zu entziehen, liegt darin, sich ins Nicht-Handeln zu flüchten, in ein Sprechen, das der Rhetorik des Gesetzes zuwiderläuft. Somit entwickelt sich auch keine eigentliche Romanhandlung. Von den Aufständen erfahren wir lediglich in langen, teilweise philosophisch anmutenden Dialogen zwischen den Figuren oder durch den Bericht des Erzählers, der sein Wissen offenbar nur aus diesen Gesprächen schöpft. Der Kampf gegen das Gesetz findet auf der Sprachebene statt, im Wirken einer literarischen Sprache, die sich einer konventionellen Rhetorik und Erzählweise verweigert.

Dialoge

Das erste ungewöhnliche Element, das bei der Lektüre ins Auge springt, ist der Dialog zwischen den Figuren – eine Form übrigens, die Blanchot in seinem späteren, essayistischen Werk privilegiert hat. Dialoge in einem Roman stellen den Übersetzer grundsätzlich vor besondere Schwierigkeiten: Auch wenn die Syntax häufig weniger komplex, die Wortwahl weniger gehoben ist als im Erzählertext, gehört die Figurenrede zu den schwierigsten Übersetzungspassagen in fiktionalen Texten. Die Gestaltung von Sprechakten hängt stark von der jeweiligen Einzelsprache ab, ihre Bedeutung ist stets kontextgebunden. Hinzu kommt, dass der Dialog in einem fiktionalen Text meist verschiedene Funktionen erfüllt. So kann er die Handlung vorantreiben, Informationen nachreichen, die Figurenzeichnung vervollständigen.

Den Eindruck, den Henri Sorge zunächst hinterlässt, ist der eines pedantischen Menschen mit starkem Hang zum Philosophieren: Nomen est omen. Angesichts des Namens drängt sich aber auch die Frage auf, ob Sorge vielleicht bloß ein Heideggersches Konzept im Gewand eines kleinen Beamten ist. Zumindest klingt es anspielungsreich, wenn eine der Figuren, Jeanne, am Ende äußert, sie lebe nur vor Sorges Augen, was allerdings nicht nur als Anspielung auf das Verhältnis zwischen den heideggerschen Konzepten Dasein und Sorge begriffen werden kann, sondern ebenso auf Henri Sorges Funktion als Ich-Erzähler, durch dessen Augen allein die anderen Figuren für den Leser entstehen. Sorge wird aber auch als der Höchste erkannt und damit quasi zur göttlichen Erlöserfigur – ohne dass es eine Erlösung gäbe. Schließlich steht hinter ihm noch die Figur des Orestes: Auf diesen Mythos weist die Figurenkonstellation mit der rachsüchtigen Schwester, der schuldbeladenen Mutter, dem mysteriös verstorbenen Vater und dem mächtigen Stiefvater hin.[2]

Die Vielschichtigkeit der Figur Henri Sorge macht es schwer, einen Steckbrief von ihr zu erstellen. Dennoch lässt sich eine Sprechweise, ein Ton erkennen, der zumindest mit Sorge als Figur in Verbindung gebracht werden kann, also der Tatsache, dass er ungefähr zwanzig ist, aus einem einflussreichen Milieu stammt und (zumindest zu Anfang) ein braver, gesetzestreuer Beamter ist, der zuweilen von Wahnvorstellungen geplagt wird. Dem entspricht eine eher gewählte und höfliche Ausdruckweise, die jedoch aufgrund seines Hangs, alles detailliert zu kommentieren, häufig pedantisch wirkt. Auf erwähnt sein Nachbar Bouxx dies sogar explizit: »Pedanten wiederholen sich ständig. Haben Sie das noch nicht bemerkt? Sie wiederholen sich im Übrigen auch.« Für die Übersetzung heißt das, dass seine Repliken ebenso wie die Erzählpassagen – wir haben es ja mit einem Ich-Erzähler zu tun – im Ton durchaus gehoben, sorgfältig formuliert, mitunter eine Spur ungeduldig, aber höflich klingen dürfen, selbst wenn sich Inkohärenz und Verrücktheit andeuten.

»Sie sind Beamter?«

»Angestellter beim Standesamt.«

»Was genau ist das für eine Tätigkeit?«

»Eine Bürotätigkeit natürlich.«

»Und … sagt es Ihnen zu?«

»Ja, durchaus.«

Wenn Sorge spricht, deutet sich immer wieder an, dass er die Kontrolle über sein Sprechen verliert. So beklagt er an mehreren Stellen, er hätte gern ein Ende gefunden, doch etwas zwinge ihn zum Weitersprechen: »Damals«, fuhr ich fort, obwohl ich es gern dabei belassen hätte, »behagte mir diese Büroarbeit nicht sonderlich.« Oder:

Höchst verwirrt fuhr ich fort. Es war schon bei anderer Gelegenheit vorgekommen, dass ich gänzlich unkontrolliert drauflosredete. Während in den anderen Fällen jedoch etwas Ruhigeres, Allgemeineres als ich durch meinen Mund sprach, verschaffte sich diesmal ein trunkenes, unfähiges und unwissendes Individuum Gehör.

An solchen Stellen erinnert Sorge durchaus an Kafka-Figuren. Diese Färbung beizubehalten, auch wenn über weite Strecken philosophiert wird, erschien wichtig, um den beiden Ebenen des Textes als Roman und Metaroman gerecht zu werden. So ist auch die Entscheidung motiviert, die für Dialoge im Deutschen so wichtigen Modalpartikel behutsam in die Repliken einzustreuen, um den höflichen Umgang der Figuren zu betonen und außerdem den Eindruck von Kohäsion auch in Passagen zu erzeugen, in denen die Argumentation inhaltlich nicht kohärent oder paradox ist. Ein Beispiel mag das bereits zitierte Motto darstellen.

»Je vous supplie de le comprendre, tout ce qui vous vient de moi n’est pour vous que mensonge, parce que je suis la vérité.«

»Begreifen Sie doch: alles was von mir kommt, ist für Sie nichts als Lüge, denn ich bin die Wahrheit.«

Eine frühere, wörtlichere, dann jedoch verworfene Version lautete:

»Ich flehe Sie an, zu begreifen, dass alles, was von mir kommt, für Sie nichts als Lüge ist, weil ich die Wahrheit bin.«

Durch die Modalpartikel »doch« wird die Interaktion zwischen Sorge und der anderen Figur unterstrichen. Außerdem vermag es das umständliche »ich flehe Sie an zu…« zu ersetzen, indem es die Aussage dringlich macht: »Begreifen Sie doch«. Die Wahl des Doppelpunkt und die Verwendung des argumentativen »denn« an Stelle von »weil« für »parce que« erlaubt es zudem, die beiden Teilsätze wie im Original jeweils mit »Lüge« und »Wahrheit« zu beenden: Auf diese Weise tritt das Paradoxe der Aussage stärker hervor.

Sorge durfte in der Übersetzung allerdings keinen zu spezifischen Ton entwickeln, der ihn von den anderen Figuren allzu deutlich unterschieden hätte, denn nicht umsonst lautet der erste Satz des Erzähltextes: »Ich war nicht allein, ich war ein beliebiger Mensch«. Auch wenn Henri Sorges Sprache zunächst durch einen eigenen Stil gekennzeichnet zu sein scheint, fällt dem Leser nach einiger Zeit auf, dass er nicht immer genau weiß, wer gerade spricht. Diese Unsicherheit wird dadurch erzielt, dass die Inquit-Formeln oft weggelassen sind, so dass man meist erst nach mehreren Repliken erfährt, wer etwas gesagt hat, und teilweise verwirrt feststellt, dass man das Gesagte verkehrt zugeordnet hatte. Diese falschen Zuordnungen liegen jedoch nicht daran, dass der Leser unaufmerksam gewesen wäre. Vielmehr scheint der Text es regelrecht darauf anzulegen, ihn in die Falle zu locken und schließlich darauf zu stoßen, dass die Repliken ebenso gut von Henri Sorge als auch von seinem Gegenüber stammen könnten. Spätestens wenn die Figuren anfangen, sich selbst zu widersprechen und einzelne Dialogfetzen im Munde verschiedener Figuren auftauchen, wird deutlich, dass diese Vorgehensweise System hat.

»Langage fou«, »Irres Gerede« kommentiert ausgerechnet Henri Sorge die Worte des greisen Kranken Abran. Doch trifft diese Bemerkung ebenso gut auf seine eigene Sprechweise zu, was wieder auf die Austauschbarkeit der Figuren hinweist. Wiederholt stellen die Figuren außerdem fest, dass sie dieselbe Sprache sprechen. Oder zumindest wollen sie sich dessen vergewissern.

Auch der zunächst mysteriös anmutende Anfangssatz – »…ich war ein beliebiger Mensch« – erhält vor diesem Hintergrund seinen Sinn: Er unterstreicht, dass es nicht entscheidend ist, wer spricht — die Figuren lösen sich im Moment des Sprechens auf und verschwinden hinter den Worten, die sich von ihnen ablösen; die Sprecher sind austauschbar.

Die besondere Schwierigkeit bei der Gestaltung der Dialoge hängt aber nicht nur damit zusammen, dass die Figurenrede auf der Ebene der Geschichte ebenso funktionieren muss wie auf der Metaebene, sondern es fällt an den Repliken auch auf, dass sie sich nicht in üblicher Manier entwickeln. Häufig brechen sie an unerwarteten Stellen ab, fallen gerade aufgebaute Argumentationen plötzlich in sich zusammen, etwa wenn Sorge gerade zu einer längeren Betrachtung ausholt, auf die jedoch nicht das erwartete Fazit folgt:

»Ja und?« sagte der Mann, der mich, auf die Ellbogen gestützt, unverwandt anstarrte.

»Na, das ist doch wohl klar.«

»Was ist klar?«

»Ich weiß nicht«, sagte ich…

Damit verstößt Sorge beständig gegen zwei Regeln des Erzählens: Wer erzählt, muss nicht nur auf die Frage »und dann?«, sondern auch auf »na und?«[3] antworten können. Beidem verweigert sich Sorge.

In dieser Dialogführung Blanchots lassen sich schon Ansätze jener écriture fragmentaire erkennen, die sein späteres Werk kennzeichnet. Sie konfrontieren den Übersetzer jedenfalls ständig mit der Frage, wie brüchig die einzelnen Repliken gestaltet werden müssen oder dürfen und wie stark die Figuren aufeinander Bezug nehmen.

Zeitmanipulationen

Als fragmentarisch erscheint der Text jedoch nicht nur dort, wo Repliken von Figuren keinen eindeutigen Bezug mehr aufeinander nehmen oder elliptisch sind, sondern auch im Umgang des Erzählers mit Zeit und Raum. John Gregg hat in seiner Analyse von Blanchots Werk bereits auf die fragmentarische Struktur in Le Très-Haut hingewiesen, die im ersten Kapitel besonders deutlich zutage tritt, weil es aus mehreren kleinen, nur lose verknüpften Szenen besteht[4]. In den späteren Kapiteln tritt diese Struktur zwar weniger deutlich zutage, setzt sich aber durch das ständige Erzählen von Anekdoten und Begebnissen fort.

Das Fragmentarische liegt jedoch nicht nur in der Aneinanderreihung von Anekdoten, sondern auch in fast unmerklichen Zeitsprüngen, die häufig weder durch eine Leerzeile noch durch einen Absatz gekennzeichnet sind. Man könnte daher sagen, dass Blanchot der Erfinder des literarischen Jumpcuts ist, einer Montagetechnik, die in Filmen der Nouvelle Vague berühmt wurde, bei der eine Figur oder ein Objekt in zwei aufeinanderfolgenden Einstellungen in unterschiedlichen Räumen und doch einer annähernd gleichen Position gezeigt wird. Dadurch entsteht der Eindruck eines Zeitsprungs. Zugleich stellen jedoch andere Elemente (im Film etwa der Ton) eine Verbindung zwischen den Einstellungen her, die dem Zeitsprung zuwiderläuft. In Blanchots Text findet man ein derartiges Verfahren mal vor, mal nach oder manchmal auch zwischen zwei Repliken, ja sogar innerhalb derselben Replik, wie etwa in einem Gespräch zwischen Bouxx und Sorge:

»Ist das ein Gleichnis?«

»Nein … wie kommen Sie darauf? Es ist kein Gleichnis, es ist eine Begebenheit aus meiner Jugend. Wie ich sehe, haben Sie neue Möbel. Wollen Sie sich endgültig hier niederlassen?«

»Ja, ich denke schon.«

Dies wirft die Frage nach dem Einfluss dieser Zeitsprünge auf die Auslegung der Sprechakte auf, je nachdem wie viel Zeit vermutlich zwischen den Repliken vergeht. Man begegnet diesen Sprüngen aber auch in erzählenden Passagen, in denen das Agieren der Figuren beschrieben wird.

An einer anderen Stelle gibt es gleich mehrere Zeitsprünge in einem Absatz. Die Figuren befinden sich erst im Fotogeschäft von Marie Scadran, der Nachbarin von Sorge, sind dann plötzlich auf der Straße und sitzen wenige Zeilen später unvermittelt in einem Restaurant.

Sie wandte sich ab und blickte auf die kleine elektrische Wanduhr, es war schon nach zwölf. Ich fragte sie, ob sie nicht Lust habe, mit mir im Viertel essen zu gehen, bevor sie in den Laden zurückkehrte. Um diese Zeit war der Platz laut und belebt. Die Autos fuhren langsam vorbei. Auf dem Bürgersteig warteten Leute, ohne etwas zu sagen, mit einer Fügsamkeit, die auf das Diktat der Vorschriften zurückzuführen war. Als ich sie neben mir sitzen sah, bereit, dasselbe zu essen wie ich, dieselben Handbewegungen auszuführen, dieselben Leute zu betrachten, war ich zutiefst verblüfft.

Diese Jumpcuts erzeugen irritierende Effekte, die — angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Ich-Erzähler handelt, der grundsätzlich unzuverlässig sein kann — auf der Handlungsebene als »Blackouts«, als Bewusstseinstrübungen gedeutet werden können. Nicht umsonst fragen ihn seine Nachbarin Marie und später auch Bouxx, ob er an Fallsucht leide. Dies führt dazu, dass dem aufmerksamen Leser kurze »Filmrisse« in der Erzählung auffallen, die der Erzähler jedoch kaum thematisiert, weil er sie gar nicht bemerkt.

Andere Zeitmanipulationen hängen mit der bereits erwähnten mythologischen Matrix zusammen. So haben wir es in diesem Text nur auf den ersten Blick mit einer linear ablaufenden Zeit zu tun – schon nach wenigen Seiten deutet sich an, dass dem Text der Orestes-Mythos zugrunde liegt, der sich in den Figuren immer wieder aktualisiert.

Mir wurde klar, dass sich all dies schon eher hätte zutragen können, vor Jahrtausenden, als habe die Zeit sich aufgetan und ich sei durch diese Bresche gefallen. Meine Mutter wurde mir geradezu unangenehm. Ich war verwirrt und begriff zugleich besser, warum sie sich so reserviert gab, warum ich vor Jahren den Kontakt zu ihr abgebrochen hatte, warum … Es rührte von damals her. Meine Mutter war nun jemand von früher, eine monumentale Person, die mich zu vollkommen wahnwitzigen Dingen anstiften konnte. Das war die Familie. Die Erinnerung an eine Zeit vor dem Gesetz …

Es gibt auch weitere Hinweise darauf, dass wir uns in einer Zeit der ständigen Wiederkehr, in einer zyklischen Zeit befinden, einem fatalistischen Universum. Hinter jeder Figur aus Sorges Familie steht ein Toter, eine mythologische Figur, und sieht sie an. Dies gilt auch für den Erzähler, jedoch in einem anderen Sinn, der mit dem Ende des Textes zusammenhängt, wenn Henri Sorge, sterbend, endlich sagt: »Jetzt. Jetzt ist es soweit: ich rede«. Sterben und Sprechen sind hier ineinander verschlungen. Im Sterben beginnt Sorge zu reden und führt uns zurück an den Anfang des Romans, der somit von einem Sterbenden erzählt wird – ewige Wiederholung, ständige Wiederkehr: ein Ende, das zugleich den Beginn des Textes generiert.

So wie M. C. Eschers »Zeichnende Hände« auseinander hervorgehen, erschaffen sich der Erzähler Henri Sorge und seine Geschichte, in der die Figur Henri Sorge stirbt, gegenseitig: Es wird eine Geschichte konstruiert, die keine Erlösung, keine Ende findet, aus der es kein Ausbrechen gibt, weil Innen und Außen zusammenfallen. Somit könnte man die vorliegende Struktur auch mit der eines Möbiusbands vergleichen. Der Erzähler Sorge ist sowohl die Zukunft als auch die Vergangenheit der Figur Sorge – folglich ist unentscheidbar, ob Sorges Wahnvorstellungen den Endpunkt des Romans darstellen oder aber seinen Ausgangspunkt, so dass die Erzählung zum Produkt seines Wahns wird. Diese Lesart wird nicht nur durch die erwähnte Zeitkonstruktion ermöglicht, sondern auch durch die Raum(de)konstruktion.

Der Eindruck, man befinde sich in einer nicht linear ablaufenden, mythologischen Zeit, wird im Französischen übrigens durch das leider unübersetzbare Tempus des Imparfait verstärkt[5], in dem weite Strecken des Romans gehalten sind: Die Zeit dehnt sich scheinbar zur ewigen, unbestimmten Dauer aus – eine Welt nach dem Ende der Geschichte, in der keine Ereignisse mehr stattfinden. Ein solches Tempus steht dem Deutschen nicht zur Verfügung. Diesen nebeligen Eindruck kann daher nur der Leser des Originals erhalten.

Auch erfährt man nicht, wann etwa die bereits erwähnte Epidemie beginnt oder wie viel Zeit überhaupt in diesem Roman vergeht. Vereinzelte Hinweise auf Wochentage sind trügerisch, denn an anderen Stellen heißt es, manche Kranke seien vielleicht schon seit Monaten krank. Und Sorge zweifelt, ob sich seine Zeit mit Jeanne Galgat, der Krankenschwester, statt auf viele Tage nicht doch nur auf einen einzigen Tag beschränkt.

Der entwirklichte Raum

Dass nicht nur die Sprechweise der Figur Henri Sorge ver-rückt ist, sondern auch der Erzähltext zunehmend zur »langage fou« wird, zeigt sich besonders deutlich an den sich allmählich verändernden Beschreibungen von Räumen und Handlungen. Manche Beschreibungen wirken zu Beginn vielleicht einfach nur etwas ungewöhnlich, poetisch, doch irgendwann wird deutlich, dass der Erzähler bestimmte Vorgänge, bestimmte Räume nicht mehr begreift – als seien ihm die Schemata, die notwendigen Muster, die sogenannten Scenes für eine normale Wahrnehmung von Ereignissen, Handlungen, Situationen und Objekten abhanden gekommen. Zum Beispiel beschreibt er ein Geräusch, das sich im Nachhinein als Schnarchen des eingenickten Stiefvaters entpuppt, wie folgt:

Gegen Abend öffnete ich vorsichtig die Tür und lauschte auf ein seltsames Geräusch, ein Flüstern, ein papierenes Wort, das zerknüllt und dann vorsichtig zerrissen wurde. [...] Das Geräusch war verklungen, doch war da noch etwas, das die Stille streifte: ein vorbei gleitender Stoff, ein fließendes Geräusch oder eher eine sich nähernde Stimme, ja, der zaghafte geduldige Versuch, in Reichweite des Sprechens zu gelangen. Es war nichts Bedrohliches daran, und wenn ich dennoch beunruhigt war, dann nur weil es ein allzu friedliches, ungreifbares Geräusch war, beruhigend, weiser als alle Weisheit: die vollständige, abgeschlossene Erzählung sämtlicher Ereignisse eines endlosen Tages. Auf einmal zog sich ein Riss durch das Geräusch, und ich erblickte einen leicht geöffneten Mund und Augen, die ebenfalls halb offen waren, noch verstört und unfähig, etwas zu sehen; bis zu dem Moment, da das Geräusch ganz verebbte und sich klar in einen Blick verwandelte, der sich auf mich richtete und dieselbe Friedlichkeit, denselben Ernst besaß wie zuvor das Geräusch [...],

In einer späteren Szene wird ein vor dem Fenster auf und ab springender Hund von ihm nicht als solcher erkannt. Die Beschreibung gerät zu etwas Monströsem, Unerklärlichem, Beängstigendem, das eine psychotische Wahrnehmung vermuten lässt:

Plötzlich begann mein Gegenüber über die ganze Fensterbreite außerordentlich hektische Bewegungen zu machen, er streckte sich, bückte sich blitzschnell wieder. Er kroch den Boden entlang, stand dann wieder auf; für einen Augenblick dehnte sich sein Schatten unglaublich weit aus und erreichte den oberen Teil des Fensterkreuzes, um gleich darauf wieder seinen seltsamen Tanz aufzuführen. Der Anblick entsetzte mich.

Die unheimliche Wirkung dieser Passagen wird noch verstärkt durch Synästhesien – aufwird von dem »dunklen Geschmack« eines Geruchs gesprochen – und regelmäßige Metaphorisierungen der Gerüche, die meist mit Tod und Fäulnis assoziiert werden, etwa wenn auf von »ekelerregenden Geruchslarven« die Rede ist oder wenn sich der Geruch personifiziert.

Diese Ausdünstung kam langsam näher, ich bemerkte sie auf dem Sofa, auf meinem Ärmel, dann zog sie sich zurück. Nach einer Weile verharrte sie reglos im Dunkeln, nur wenige Schritte von meinem Gesicht entfernt, abwartend, monumental: Ich konnte sie spüren, doch so tief ich die Luft auch einsog, sie kam nicht näher, sondern beobachtete mich gleichsam, auf einen einzigen Punkt zusammengedrängt, sie lauerte mir auf, so wie es nur Gerüche vermögen, auf heimtückische und niederträchtige Weise. Einen Teil der Nacht blieb sie so vor mir stehen, hielt Abstand; selbst wenn ich ärgerlich beschloss, sie nicht mehr zu beachten, kam sie nicht näher, setzte sich aber allmählich durch, wie ein Geruch, der sich geweigert hätte, eingeatmet zu werden, ein niedriger, gemeiner, herablassender Geruch, eine Grabesfäulnis, jenseitig, immer jenseitiger, mit einer leicht pharmazeutischen Note.

Da die Sprache zunehmend ihre Fähigkeit verliert, als Instrument zur Deutung der Welt zu taugen, zerfällt der schon zu Beginn wenig konkrete Raum in diesem Text zusehends. Wir wissen nur, dass wir uns in einer Stadt befinden; einige Details mögen auf Paris hindeuten, doch existiert in dem Buch seltsamerweise nur ein einziger Verweis auf die reale Welt: nämlich als Bouxx von seinem früheren Leben in Basel erzählt (Ansonsten wird lediglich ein fiktiver Ort namens Joblin erwähnt). Dieser Hinweis auf die Stadt Basel ist ein überraschendes und schwer deutbares Element in einer Geschichte, die ansonsten ausschließlich in der Dystopie verortet ist. Es könnte allerdings zu jener Logik passen, in der Bouxx von Sorge abschätzig als »veraltetes, undatiertes Buch« bezeichnet wird (auf die Assonanz mit dem englischen Wort books hat bereits Evelyne Londyn[6] hingewiesen), also mit einer konventionellen Erzählweise in Verbindung gebracht wird, in der sprachliche Zeichen noch der Repräsentation dienen.

In diesem Text wird der Raum mitunter so konstruiert, dass er gerade noch denkbar ist, selbst wenn er die meiste Zeit sehr abstrakt gehalten wird und ohne beschreibende Epitheta auskommt. Doch wenn die »langage fou« des Erzählers einsetzt, gewinnt der Leser den Eindruck, als löse der Raum sich auf oder als verfüge der Ich-Erzähler nicht mehr über die Mittel, ihn wiederzuerkennen und so zu beschreiben, wie es der Normalität bzw. einer möglichen Welt entspricht. Nimmt man auf der Handlungsebene an, der Erzähler sei von Wahnanfällen geschüttelt, dann lässt sich der Roman auch lesen, als würde Henri Sorge die ganze Zeit an einem Ort, umgeben von denselben Figuren, verweilen: nämlich in einer Art Heilanstalt, die er nicht als solche erkennt, und von der man nur über den Erzähler erfährt, dass er sich einmal in ihr aufgehalten hat. Mit anderen Worten: Selbst die (fiktive) Existenz dieses gemutmaßten Ausgangsorts muss in Zweifel gezogen werden, ist er doch nur ein erinnerter Ort oder einer, aus dem Sorge nie herausgekommen ist. In letzterem Fall würden nur seine Wahnanfälle verhindern, dass er den ihn umgebenden Raum und die ihn umgebenden Figuren wiedererkennt. Doch statt sie zu identifizieren, nimmt Sorge bloß noch Ähnlichkeiten wahr. So könnte die Krankenschwester Jeanne Galgat auch Henris Schwester sein, wie Sorge selbst bemerkt: »und in dem Moment stieß es mir auf: Sie ähnelte meiner Schwester«, Bouxx könnte der Arzt der Anstalt sein und ähnelt auch dem Stiefvater: »doch er hatte den Platz des anderen so schnell und mit solcher Unverfrorenheit eingenommen, dass ich die beiden in meiner Vorstellung nicht ganz auseinanderhalten konnte«. Henri Sorge glaubt, seiner Nachbarin ähnlich zu sehen, und trifft im Büro auf seinen Doppelgänger, der denselben Namen trägt wie er und ebenfalls krank ist. Des Weiteren gibt es jenen rätselhaften, sich ausbreitenden Fleck, den Sorge an verschiedenen Orten wahrnimmt und beschreibt. Angeblich hat er ihn erstmals bei den Eltern und dann in der mutmaßlichen Klinik erblickt. Er scheint von einem Zimmer zum andern, von einem Gegenstand zum anderen zu wandern. Fast alle Figuren, Räume, Gegenstände evozieren andere, frühere – was die Gesamtstruktur des Romans stützt, dessen Ende zugleich seinen Anfang darstellt. In der Tat ist immer alles schon bekannt und immer schon passiert. Der Ort ist immer einer, an dem Sorge schon vorher war und den er doch nicht wiedererkennt: Sorge – und mit ihm der Leser – bleibt in einer ewigen Vorwärts-Rückwärts-Bewegung begriffen. Dies würde auch erklären, warum der Erzähler uns regelmäßig Pronomen vorsetzt, wenn er von einer Figur spricht, und uns dann über mehrere Seiten den Namen oder andere Hinweise auf die Identität der Figur vorenthält.

So erfährt der Leser in einer Szene weder, wie Sorge an den beschriebenen Ort gekommen ist, noch wer sich hinter dem Pronomen »sie« verbirgt: »Sie betrachtete die beiden Häuser, die gebrannt hatten, gar nicht im Besonderen, sondern starrte einfach vor sich hin.« Die Figur ist völlig unbekannt. Erst mehrere Seiten später folgt ein erstes Attribut: ein Regenmantel. Dass es sich um eine Krankenschwester handeln muss, erschließt sich erst nach und nach aus dem Kontext; dass sie Jeanne heißt, erfährt man fünf Seiten später durch die Replik einer anderen Figur, den vollständigen Namen erst nach 80 Seiten. Wenn man der Logik des Textes folgt, der sich in zwei Richtungen bewegt, handelt es sich bei diesem Pronomen allerdings nicht mehr um ein proleptisches, also vorausdeutendes Pronomen, sondern um ein analeptisches, das sich auf eine bereits bekannte Figur bezieht.

Dass alle Figuren, Räume und Gegenstände in einem Text, der vorwärts und rückwärts lesbar ist, in einer Ähnlichkeitsbeziehung zueinander stehen, macht es unmöglich zu sagen, wer oder was das Original und wer oder was die Kopie, das Ähnelnde ist. Original und Kopie lassen sich nicht mehr unterscheiden, und die Frage der Unterscheidbarkeit spielt auch keine Rolle mehr.

Eine zentrale Szene stellt in diesem Zusammenhang Sorges Faszination für die Fotografien im Fotostudio seiner Nachbarin dar. Die Fotografie steht sinnbildhaft für das Verhältnis von Original und Abbild in diesem Text: Die Originale sind verschwunden, die Abbilder sehen sich alle ähnlich und ziehen den Betrachter Henri Sorge in ihren Bann. Wie die Fotografien sind auch die Figuren lauter Doppelgänger, Geister, Reminiszenzen von etwas, das hinter ihnen steht, sich aber nicht mehr zu erkennen gibt. So in der Szene, in der Sorge den zerschlissenen Wandteppich im Zimmer seiner Schwester betrachtet:

Wenn ich aber starr stehen blieb, nahm ich einen schwachen Widerschein wahr, der über dieses zerfetzte Chaos huschte, es sacht streifte; kein Zweifel, da bewegte sich etwas; das Bild wurde von hinten gehalten, es belauerte mich, genau wie ich es belauerte. Was war das nur?

Die Figuren und Räume bleiben gespalten, getrennt, finden nicht zur Identität zurück, verharren im Modus der Ähnlichkeit: eine Erlösung für die sich immer wieder aufspaltenden Identitäten tritt nicht ein.

Kennzeichnend für diesen Roman sind aber nicht nur die Ähnlichkeitsbeziehung zwischen den Dingen, Räumen und Figuren, sondern auch deren Beschreibungen, die häufig in Form eines Oxymorons, eines Sowohl-als-auch daherkommen. Ein Beispiel dafür bildet der erwähnte Fleck, der sich durch den gesamten Text zieht – Sinnbild des Amorphen, in das die Erzählung allmählich versinkt.

Das Ungewöhnliche an diesem Fleck war, dass er nichts weiter war als ein Fleck. Er stand für nichts anderes, hatte keinerlei Färbung und wurde, abgesehen von der Einwirkung des Staubs, durch nichts sichtbar. War er überhaupt zu sehen? Unter der Tapete existierte er nicht; er besaß keine Form, sondern glich etwas Schmutzigem, Fauligem, aber auch etwas Sauberem.

Die derart beschriebenen Räume und Dinge werden zunehmend unbestimmter, ungreifbarer. Was einen großen Reiz auf den Leser ausübt, bedeutet für den Übersetzer allerdings eine weitere Hürde. Denn Sprachen beschreiben, konstruieren Räume auf unterschiedliche Weise. Und da Beschreibungen einen Raum niemals komplett erfassen, sondern nur Elemente vorgeben, liegt die Konstruktion des Raums letztlich in der Vorstellungskraft des Lesers. So geht auch der Übersetzer vor, der einen Raum in Gedanken rekonstruiert, ausfüllt, um von diesem Bild ausgehend die in seiner Sprache zur Verfügung stehenden Beschreibungsmöglichkeiten zu nutzen. Er erschließt sich die fehlenden Elemente aus dem Kontext, um dann in seiner Sprache – mit eigenen Worten – wiederzugeben, wie er den Raum denkt. Dabei verschieben sich selbstverständlich Elemente. Bildlich gesprochen: Während bei einer Beschreibung in einer Sprache die Wörter wie Lichtspots bestimmte Elemente des Raums und bestimmte Verhältnisse innerhalb des Raums aufscheinen lassen – wirft eine andere Sprache ihr Licht auf andere Elemente, die im Prinzip jedoch denselben Raum entstehen lassen. So ergaben sich bei einem Satz, der einem Wahnanfall Sorges vorausgeht, Schwierigkeiten: »Quand j’eus réuni un monticule de déchets, je l’entraînai vers les caisses.«

Problematisch ist hier, dass man nicht weiß, worum es sich bei den »déchets« genau handelt. Da Sorge jedoch einmal erwähnt, dass sich auf dem Boden Stroh und Schlamm befinden, wurden »Dreck« und »Unrat« der möglichen Übersetzung »Müllhaufen« oder gar »Mülleimer« vorgezogen, weil sie weniger an zivilisatorischen Abfall denken lassen. Schwierigkeiten bot auch die Übersetzung von »entraîner«, einem jener französischen Bewegungsverben, die weder die Richtung noch die Art der Bewegung genau benennen – was im Deutschen jedoch selten unentschieden bleiben kann. Dazu müsste man wiederum wissen, was dieser Haufen Dreck genau ist. Anstatt des ursprünglichen »Zerrens« entschied ich mich schließlich für »fegen«, in der Vorstellung, es müsse sich weiterhin um Schlamm und Stroh handeln. Deswegen lautet nun die Passage: »Nachdem ich einen Haufen Dreck zusammengekehrt hatte, fegte ich ihn zu den Kisten.«

Als Sorge kurz darauf dem Absoluten begegnet, werden die Raumkoordinaten und differenzierenden Gegensätze vollends aufgehoben. Die Beschreibung des Haufens entzieht sich aller Vorstellungskraft:

… ein kompakter, klaffender Haufen – ein Loch. Aber als ich meine Hand vorschob, um zu erkennen, was ich sah, spielten meine Finger auf der Stelle verrückt, sie krümmten, streckten und verdrehten sich, ich erstickte, biss mir ins Fleisch und warf einen Blick über die Hand hinweg, einen faszinierten und entsetzten Blick. Er bewegte sich nicht im Geringsten, lag reglos am Boden, war einfach nur da, und ich sah ihn in seiner Gesamtheit, nicht nur sein Bild, von innen wie von außen, ich sah etwas fließen, fest werden, erneut fließen, und nichts in ihm regte sich, jede Bewegung war absolute Lähmung, diese Furchen, diese Auswüchse, diese Oberfläche aus getrocknetem Schlamm waren sein zusammengefallenes Inneres, dieser erdige Haufen sein formloses Äußeres, es begann nirgends, endete nirgends, von welcher Seite man ihn nahm, spielte keine Rolle, und sobald man die Form erblickte, fiel sie zusammen und wurde zu einer Masse, von der sich die Augen nicht lösen konnten.

Die von Sorge entworfenen Räume sind, wie wir gesehen haben, entweder abstrakte oder unmögliche Räume. Nur vereinzelt werden am Ende des Romans noch halbwegs »lesbare« Bilder evoziert, und selbst diese werden schon im darauffolgenden Moment wieder negiert. Damit sind die einzelnen Wörter nur noch schwer deutbar. Erkennbar bleibt jedoch das Verfahren, das bei der Übersetzung übernommen werden muss: die Art, in der Raum durch Sprache entwirklicht wird, die Art, wie Sprache ihre eigene Funktionsweise vorführt und dabei ihr Verschwinden inszeniert.

Abschließend noch ein Wort zum Titel, der eine ganz eigene Problematik birgt. Leslie Hill hat in seiner Untersuchung zu Le Très-Haut überzeugend dargestellt, dass es in diesem Buch eine Reihe intertextueller Bezüge zu Hölderlin gibt[7], dem Blanchot 1946, also zwei Jahre vor Erscheinen des Romans, einen Aufsatz in der Revue Critique gewidmet hat: »La parole sacrée de Hölderlin«. Der Titel »Le Très-Haut« könnte damit auch eine Übersetzung von Hölderlins Pindar-Fragment »Das Höchste« sein (das wiederum selbst eine Übersetzung ist). Tatsächlich geht es in dem Pindar/Hölderlin-Text auch um eine Reflexion über das Gesetz:

Das Höchste

Das Gesetz,

Von allen der König, Sterblichen und

Unsterblichen; das führt eben

Darum gewaltig

Das gerechteste Recht mit allerhöchster Hand

Nun wird »das Höchste« im Französischen üblicher Weise mit »le Très–Haut« übersetzt. Da es im Französischen jedoch keinen neutralen Artikel gibt, lässt dieser Ausdruck mehrere Deutungen zu: Er kann sowohl als »der« oder »das« Höchste gelesen werden, was heißt, dass man sich für eine Lesart entscheiden muss. »Das Höchste« würde man mit dem Gesetz assoziieren, »den Höchsten« hingegen mit Sorge oder dessen Stiefvater. Da diese Figuren ohnehin als Inkarnationen des Gesetzes beschrieben werden, schien es sinnvoller, sich für »der« zu entscheiden und damit die Verknüpfung des Titels mit der Handlungsebene gegenüber der Verknüpfung mit der philosophisch-allegorischen Ebene des Romans zu privilegieren. Auch die Tatsache, dass Sorge am Ende von Jeanne als »le Plus-Haut« erkannt wird, eine Variante von »der Höchste«, legt nahe, sich für die personifizierende Lesart zu entscheiden. Weil Jeanne nun aber an keiner Stelle von »le Très-Haut«, sondern nur von »le Plus-Haut« und »Le Suprême« spricht, musste noch eine sprachliche Unterscheidung zwischen dem »Höchsten«, »dem Hohen« und dem »Allerhöchsten« eingeführt werden. Mit dem letztlich gewählten Titel »Der Allerhöchste« entsteht nun ein Bezug auf die letzte Zeile des zitierten Fragments, wodurch die schon verloren geglaubte Hölderlin-Anspielung doch noch gerettet wird.

Am Ende bleibt nur zu wünschen, dass es dem Übersetzer – ganz nach dem Vorbild des Autors, dessen Texte immer auch von seinem Verschwinden im Akt des Schreibens erzählen – gelungen sein möge, hinter dem nun auf Deutsch vorliegenden Text zu verschwinden, und dass dieser in eine Ähnlichkeitsbeziehung mit dem Original tritt, das sich in ihm aktualisiert – ohne selbst zu verschwinden. Schön wäre, wenn von ihm ein Blick übrig bliebe, den der Leser ähnlich spürt wie Sorge vor dem Wandteppich den Blick des Originals spürt – auch wenn dieses sich ihm nicht zu erkennen gibt.

Berlin, Februar 2011         Nathalie Mälzer-Semlinger        Abgedruckt in: Maurice Blanchot – Der Allerhöchste © Matthes & Seitz Berlin


[1] ausführlich dargestellt bei Christophe Bident: Partenaire invisible, Seyssel: Champ Vallon 1998.

[2] Blanchot hatte in seinem Aufsatz von 1943 »Der Orestes-Mythos«, der dem vorliegenden Band beigegeben ist, Kritik an Sartres Theaterstück »Die Fliegen« geübt. Insofern stellt die Auseinandersetzung mit der Orestie in Le Très-Haut auch eine kritische Antwort auf Sartres Freiheitsbegriff dar.

[3] Vgl. Matias Martinez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München: Beck 1999, S. 147.

[4] John Gregg: Maurice Blanchot and the Literature of Transgression, Princeton New Jersey: Princeton University Press 1994.

[5] Vgl. Eric Hoppenot: L’Epreuve du Temps chez Maurice Blanchot, Paris. Ed. Complicité 2006.

[6] Evelyne Londyn: Maurice Blanchot Romancier. Paris: Nizet 1976.

[7] Hill, Leslie: After Blanchot, literature, criticism, philosophy, Neward. University of Delaware Press 2005; darauf verweist auch Kevin Hart: The Dark Gaze, Chicago: University of Chicago Press 2004.

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