07.03.2022

U wie Y und umgekehrt

U wie Y und umgekehrt

von Radonitzer

1

Am Abend des 26. Oktober 1932 waren alle Räume der Rjabušinskij-Villa in der Malaja Nikitskaja 6 erleuchtet. Maksim Gor’kij erwartete Gäste – die rund 50 laut Liste geladenen Schriftsteller waren eingetroffen, diesmal auch parteilose Autoren, denn eine Woche zuvor hatten sich bei Gor’kij zur  »Probe« nur Parteimitglieder versammelt, unter ihnen auch Nikolaj Bucharin, der am 26. Oktober nicht mehr dabei war. Unter den Geladenen des Abends der Literaturwissenschaftler und Kritiker Kornelij Zelinskij, der tags darauf eine akribische Beschreibung des Treffens seinem Tagebuch anvertraute, die einzige authentische Quelle. 

Die Gäste hatten sich in den Räumen versammelt, der Speisesalon war noch verschlossen, auf dem Diwan in Gor’kijs Bibliothek saßen Vsevolod Ivanov, Valentin Kataev und Leonid Leonov, sie stritten über das Bild Pavel Dmitrievič Korins, im Frühjahr 1932 in Sorrent entstanden, das Gor’kij vor dem Hintergrund des Vesuv überlebensgroß im Mantel und mit Stock zeigt (Korin leitete nach dem Krieg kurzzeitig die Restaurationsabteilung in der Dresdner Gemäldegalerie, zwischen 1941 und 1947 hatte er auch Entwürfe für die Wandmalerei im Palast der Sowjets angefertigt). 

»Gor’kij war noch nicht rausgekommen…  Pëtr Petrovič Krjučkov öffnet die Türen zum Eßzimmer und sagt: Genossen, kommen Sie bitte herein. Nehmen Sie Platz!… Wir setzen uns mit lautem Stühlerücken. Die Tische waren U-förmig aufgestellt und mit weißen Tischtüchern bedeckt. Doch momentan sind sie leer. Die Türen werden wieder geschlossen… Endlich werden die Türen geöffnet und sie kommen alle zusammen herein: Stalin, Gor‘kij, Molotov, Kaganovič, Vorošilov, Postyšev, in der Tür bleiben  Pëtr Krjučkov und Maksim Peškov stehen.... Schweigen, Spannung, Erwartung«, so notiert Zelinskij im Tagebuch. Es ist der Abend, an dem die immer wieder zitierten Worte von den »Schriftstellern als den Ingenieuren der menschlichen Seele« gesprochen werden, an dem über die Organisationsform eines künftigen Schriftstellerverbandes debattiert wird, Stalin Vorošilov widerspricht, der eher Panzer als Seeleningeniere will, sehr viel getrunken, geraucht (obwohl untersagt), gegessen wird, im Raum Unruhe und Lärm, man versteht oft das eigene Wort nicht. Vsevolod Ivanov verteidigt die RAPP, die Vereinigung proletarischer Schriftsteller, die nachdrücklich gegen Autoren zu Felde zog, die ihr Schreiben nicht dem RAPP-Schema von proletarischer Literatur unterordnen wollten. Mit der Gründung eines Schriftstellerverbandes sollte RAPP die Daseinsberechtigung verlieren, aber auch alle anderen Gruppierungen und Vereinigungen künftig unter einer Leitung und einer Doktrin – der des sozialistischen Realismus – zusammenwirken. 

Als Ivanov 1921 aus Sibirien nach Petrograd kam, landete er bei der RAPP, lernte dort seine zweite Frau kennen, hielt sich aber eher an die »Serapionsbrüder«, deren Mitglied als Bruder Alëut er wurde. Jetzt meinte er, die RAPP-Leute hätten ihn zwar zwei Jahre lang gedroschen, das hätte ihm nur genutzt, er sei ein kräftiger Mensch und verglich jene, die sich über eine vermeintliche Vorherrschaft der RAPP im künftigen Organisationskomitee für den Schriftstellerverband beklagten, mit einem Kolchosvorsitzenden, der darüber jammert, daß seine Hühner nicht legen, wenn Flugzeuge fliegen. Dieser Vergleich belustigte Stalin, er wandte sich lachend seinem Gegenüber am Tisch, Leonid Leonov, zu und sagte, Ivanov kenne seinen Preis, was Leonov wegen des Stimmengewirrs nicht verstand, nachfragte, so daß Stalin lauter wiederholte: »Er treibt seinen Preis hoch. Klar?«

Es gab ewig Toasts auf Stalin, bis der proletarische Schriftsteller Georgij Nikiforov aufsprang und in den Lärm schrie: »Ich hab’s satt! Wir haben eine Million hundertsiebenundvierzigtausend mal auf die Gesundheit des Genossen Stalin getrunken! Er hat sicher satt, sich das anzuhören. Stalin erhebt sich auch. Er streckt Nikiforov übern Tisch die Hand entgegen, drückt dessen Fingerspitzen: »Danke, Nikiforov, das ist richtig. Ich hab das satt… Im Verlauf des Abends redet Stalin. Und wieder die Rufe »Trinken wir auf die Gesundheit des Genossen Stalin!« … Dieses Mal stehen alle einträchtig auf und trinken auf Stalins Gesundheit. Wieder fängt jemand an, ein Lied zu singen. Lärm, Lärm«, hält Zelinskij im Tagebuch fest. Früh um fünf Uhr geht man auseinander. 

Die »lange Nacht« blieb einigen Schriftstellern erspart. Sie waren nicht geladen. Das waren Autoren, die den Kern der aufstrebenden Sowjetliteratur bildeten, deren Ästhetik nicht auf die Methode des sozialistischen Realismus zurückgeschnitten werden konnte: Achmatova, Mandel’štam, Pasternak, Platonov, Babel’, Bulgakov, Andrej Belyj, Nikolaj Kljuev, Pil’njak, Boris Šklovskij ­– sie alle fehlten.

Drei Tage nach diesem Treffen (der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets, Michail Ivanovič Kalinin, hatte Gor’kij noch mit dem Lenin-Orden dekoriert), schrieb Gor’kij an Stalin, er reise am 29. Oktober wieder zurück nach Sorrent und bestellte Grüße an Nadežda Allilueva, Stalins Ehefrau, die sich kurz danach im Alter von 31 Jahren, am 7. November, erschießen wird.

Die Rjabušinskij-Villa, in der man sich versammelt hatte und die Gor’kij bei seiner endgültigen Rückkehr aus der Emigration, neben einem Sommerhaus in Gorki (in Hauptstadtnähe), als Wohnsitz zuerkannt worden war, war 1900-1903 von Fëdor Osipovič Šechtel’ für den russischen Unternehmer, Bankier, Sammler und Mäzen Stepan Pavlovič Rjabušinskij (1874-1942) erbaut worden, der mit seinem Bruder Sergej eines der ersten Autowerke in Rußland gründete. Nach der Revolution emigrierte die Familie nach Italien. Die Villa wurde 1917 »nationalisiert«, war ab März 1918 Sitz der Paß- und Visaabteilung des Volkskommissariats für Äußeres der RSFSR, dann eines Verlages (Gosizdat), 1924 wurde dort das Psychoanalytische Institut eingerichtet mit dem Experimental-Kinderheim, geleitet von Vera Šmidt, in dem Stalins Sohn Vassilij und Timur Frunze, Sohn des damaligen Oberkommandierenden der Roten Armee, Michail Frunze, Zöglinge waren, von 1926-1931 war die Villa Sitz der Gesellschaft für Kulturelle Verbindungen mit dem Ausland, der VOKS (geleitet von Ol’ga Davydovna Kameneva, der Frau Kamenevs), im Mai 1932 zog Gor’kij dort ein, direkt vom Belorussischen Bahnhof kommend (Filmmaterial!), natürlich hatte sein »Sekretär« Pëtr Krjučkov alles vorbereitet. Dort lebte Gor’kij, er haßte dieses Haus. Heute ist es Museum.

2

Im Mai 1928 war Maksim Gor’kij nach siebenjähriger Abwesenheit aus Sowjetrußland auf Einladung Stalins zum ersten Mal wieder in seine Heimat gereist. Er kam mit dem Zug über Berlin und Warschau, auf dem ersten Bahnhof in der UdSSR wurde er von einer großen Menge empfangen. Bei unseren Recherchen (Regine Kühn und ich arbeiteten ab 1993 an fünf Filmen für den Sender »arte«, die wir unter dem Sammeltitel »Topographie der Macht« zusammenfaßten) stießen wir im Krasnogorsker Dokumentarfilmarchiv auf ein Sujet von der Ankunft Gor’kijs 1928 auf dem Moskauer Belorussisch-Baltischen Bahnhof (heute nur Belorussischer Bahnhof). Auf dem Perron waren Junge Pioniere angetreten, der Zug rollte ein, Gor’kij lehnte sich aus dem Fenster, winkte, neben ihm waren Nikolaj Bucharin und Sergo Ordžonikidze zu sehen, offenbar eine Station vorher zugestiegen, um mit ihm anzukommen. Unter der Menge auf dem Bahnhof entdeckten wir auch Vsevolod Ivanov, mit Hut und im Anzug. Nach einer kurzen Ansprache wurde Gor’kij im offenen Wagen, begleitet von Lunačarskij und berittener Miliz, in die Stadt geleitet. Die nächsten Wochen reiste Gor’kij auf vorbereiteter Route durch das Land (u.a. Kursk, Charkov, die Krim, Rostov am Don, Baku, Tbilissi, Jerewan, Zarycin [das spätere Stalingrad], Nižnij Novgorod, seine Geburtsstadt, wo er ein paar Tage bleibt), wurde überall enthusiastisch empfangen, bewunderte die Sauberkeit (für ihn inszeniert), traf wieder in Moskau ein und kehrte nach einiger Zeit zurück nach Italien. Im Jahr darauf kam er ein zweites Mal, reiste auf die Solovki-Inseln in den GULag, vorgeführt als Umerziehungslager. In der Reiseskizze »Solovki« äußert er sich anerkennend über das Gefängnisregime und die Umerziehung der Häftlinge. Wieder kehrte er nach Italien zurück, in seine Villa in Sorrent mit Blick auf den Golf von Capri. 

Dort besuchten ihn zum Jahreswechsel 1932/33 Vsevolod Ivanov und Tamara Kaširina, dessen Ehefrau. Sie kamen aus Paris, das Moskauer Künstlertheater (MChAT) hatte mit der dramatisierten Fassung von »Panzerzug 14-59«, einer Stanislavskij-Inszenierung, dort gastiert, eine der wenigen Reisen Ivanovs ins westliche Europa. In einer Reiseskizze über diesen Besuch hat man den Eindruck, er habe Sorrent und den Golf von Neapel nur gezwungenermaßen betrachtet.

Die Bekanntschaft mit Gor’kij reicht fast zwanzig Jahre zurück. Im Herbst 1916 hatte Ivanov ihm aus Sibirien die Erzählung »Auf dem Irtysch« geschickt, Gor’kij antwortete fast postwendend, nannte die Erzählung eine »feine Sache«, kündigte ihre Veröffentlichung für Dezember in einem  Almanach an. »Die Druckerei geriet in Aufregung, redete los. Wir beschlossen uns zu besaufen und zwar sternhagelvoll… In der von der Zeitung ‚Sowjetisches Sibirien’ ausgestellten Bescheinigung, auf die hin ich aus Omsk nach Petrograd kam, stand kurz und knapp:  ‚Abkommandiert zur Verfügung M. Gor’kijs’!«, schreibt Ivanov später. Doch nicht wegen ein paar mehr oder weniger gelungener Geschichten kam Ivanov nach Petersburg, er hatte Gor’kij seine beklommene Lage geschildert und um Hilfe gebeten. In den Wirren des Bürgerkrieges waren Ivanovs Beziehungen zu Roten oder Weißen nicht immer eindeutig zu bestimmen, als die Čeka das zu überprüfen begann, befiel ihn Panik. Gor’kij wandte sich an den Vorsitzenden des Sibrevkom (Sibirisches Revolutionskomitee) Smirnov, der Ivanovs Abkommandierung einleitete. Gor’kij schätzte an Ivanov dessen »Wanderleben«, ähnlich dem seinen, das ihn kreuz und quer durch das Land geführt hatte. In diesem Geist waren sie Brüder.

Er kam 1921 aus Omsk, fand Kontakt zur RAPP, aber erschien auch bei den »Serapionsbrüdern«. Elisaveta Polonskaja, die einzige Frau dieser Gruppe, erinnerte sich später daran: »An einem Winterabend tauchte Ivanov in Slonimskij’s Zimmer auf, den dünnen Mantel der Roten Armee auf den kräftigen Schultern, in russischen Stiefeln, mit zerzaustem blonden Haarschopf, unter dem graue kleine verwegene Augen funkelten und stachen«. 

Für Trockij ist Ivanov der auffallendste, bedeutendste und solideste unter den Serapionsbrüdern. Ivanov wurde nicht von allen gelitten, Marietta Šaginjan aber verteidigte ihn. Er erzählte außergewöhnliche Dinge über sein Leben in Sibirien, etwa wie bei einer Hungersnot im Dauerfrostboden ein Mammut gefunden und vom Revolutionskomitee je nach revolutionären Verdiensten das Fleisch verteilt wurde. Jahrzehnte später schreibt er einen Text (natürlich unveröffentlicht), wie ein »Generalissimus« aus sibirischem Frostboden geborgen und für das Museum hergerichtet wird. Nicht die einzige Merkwürdigkeit im Schaffen Ivanovs.

3

Mit seinen Geschichten hatte er in der Gruppe Erfolg, man nahm ihn auf. Nach Petrograd war er mit einer Frau gekommen, Marija Nikolaevna Sinitsyna, die aber mit einem tschechischen Offizier, einem Legionär, durchbrannte und ins Ausland floh. Bei den RAPP-Leuten fand er bald Ersatz, Anna Pavlovna Vesnina, eine Autorin, resolut in ihren Ansprüchen und mit Organisationstalent. Im September 1921 heirateten sie. Viktor Šklovskij, einer der Serapionsbrüder, hielt nicht viel von ihrem Talent. Mit ihr hatte Ivanov zwei Mädchen, die noch im Säuglingsalter starben. Im April 1924 bemerkte Kaverin, ein weiterer Serapionsbruder, in einem Brief an Lev Lunc, einem anderen Bruder, schmerzlich: »Vsevolod ist ein Penner geworden und trinkt.« Sie wußten nichts von der familiären Tragödie. Nach der Geburt seines Sohnes schrieb Ivanov am 30. November 1925 an Gor’kij: »Mir wurde vor drei Monaten ein Sohn geboren, vor ihm hatte ich zwei Töchter, doch die starben, er aber ist lebig, das glaube ich, er hat eine Stupsnase, schmale Augen und ist lustig.«

Aber auch der Sohn starb. Mittlerweile lebte Ivanov in Moskau. Zunächst in der Brjusov-Gasse 2/14, einem Gebäudekomplex, in den sich die »Pravda« und das Tageblatt der Bauern »Bednota«[Armut] eingemietet hatten. Dort schlief er im Zimmer des Herausgebers der Illustrierten Zeitschrift »Prožektor«, Lazar Šmidt. (Im gleichen Haus, im Hofgebäude, arbeitete Galina Benislavskaja, Sekretärin der „Bednota“, seit 1920 mit Sergej Esenin bekannt, der zeitweilig bei ihr wohnte, dem sie selbstlos half und die sich, von Esenin nicht erhört, später an seinem Grab erschoß). Schließlich besorgte Anna Pavlovna eine Souterrain-Wohnung, Tverskoj Bul’var 14, wo Esenin, Marienhof, Pil’njak, Kataev, Schauspieler vom MChAT und vom Kammertheater häufig zu Gast waren. Auch Isaac Babel’ (er war 1925 nach Moskau gekommen) mit seiner Frau Evgenija Borisovna, die er 1925 mit der Familie nach Sergiev Possad (in der Nähe Moskaus) geholt hatte und die von dort im Dezember 1925 nach Paris emigrierte, gehörte zu den Gästen. Beide, weder Babel’ noch Ivanov, ahnten zu diesem Zeitpunkt von den Verwicklungen, die ihnen bevorstanden (oder in denen sie schon steckten). Ivanov wurde im Januar 1929 noch Vater einer Tochter mit seiner schon getrennt lebenden Frau Anna Pavlovna, obwohl er Tamara Kaširina 1928 geheiratet hatte. Tamara Vladimirovna Kaširina (1900-1995), Schauspielerin am Mejerchol’d-Theater, hatte mit Isaak Babel’ einen Sohn, Emmanuil, der am 13. Juli 1926, an Babel’s 32. Geburtstag, geboren worden war. Ihn adoptierte später Vsevolod Ivanov, ebenso die Tochter der Kaširina, Tatjana, aus einer früheren Beziehung. Der Sohn Babel’s wurde als Maler unter dem Namen Michail (Miša) Vsevolodovič Ivanov bekannt. 

Während der Arbeit an unserem Film »Trotzkis Traum. Psychoanalyse im Lande der Bolschewiki« besuchte wir ihn im Dezember 1999. In meinen Aufzeichnungen »Das Leben ist Montage. Arbeitsbuch Rußland 1993-2000« ist zu lesen: »Michail zeigt Fotos seiner Mutter – aus der Zeit vor, mit und nach Babel’. Sie war eine sehr schöne Frau und Babel’ wiederum muß ein gewaltiger Charmeur gewesen sein, wenn er diese Frau erobert hat. Er war zu jener Zeit noch mit seiner ersten Frau, Evgenija Borisovna, die nach Paris emigriert war, verheiratet. Tamara muß sehr entschieden auf klare Verhältnisse gedrungen haben, da Babel’ sich nicht entscheiden konnte, hat sie ihn, obwohl Miša schon geboren war, verlassen. Die Geschichte mit Vsevolod Ivanov ist wieder eine andere, auch Ivanov ein sehr exotischer Typ und wenn man seinen frühen Erzählungen Glauben schenken darf, auch ein Abenteurer, der die exotischen Fernen Sibiriens und Asiens durchstreift hatte. Im Gang hängen mehrere wunderbare Luboks, diese russischen Volksbilderbogen. Eins davon von verblüffender Originalität und Naivität. Es stellt die Beerdigung einer Katze/eines Katers durch sechsundsechzig Mäuse dar. Die Mäuse allesamt numeriert, unterhalb des Luboks sind nach Nummern die Namen aller aufgelistet, alle Mäuse stehen aufrecht, auf der zweiten Ebene der »Leichenwagen«, gezogen von vier Mäusen, worauf der Kater festgebunden liegt. Es hat was von Swift, vom Transport Gullivers durch die Liliputs. An der Darstellung ist sicher die Struktur zu einer Geschichte ablesbar, in der die Geschichte jeder Maus erzählt wird und in welcher Beziehung sie zum Tod des Katers steht, wie der Kater umgekommen ist und so weiter. Sicher nach einem russischen Volksmärchen. Mir scheint es wie ein Paraphrase auf die Kreml-Beerdigungen auf dem Roten Platz.«

Als Babel’s Verhältnis zur Kaširina 1927 zerbrach, man hatte sie als ein Paar gesehen, reiste Babel‘ nach Paris zu seiner dort lebenden Frau Evgenija, ihre gemeinsame Tochter Natalja wurde im Juli 1929 geboren.

Lidija Sejfullina schrieb im Februar 1928 in einem Brief an Karl Radek, der nach seinem Parteiausschluß 1927 nach Tobolsk verbannt worden war, wie sie die Geschichte mit Ivanov sah: »Manche Schriftsteller gingen eifrig daran, ihre Karrieren zu konsolidieren. So übernahm Vsevolod, der weder die erforderliche Kompetenz, noch das für einen Redakteur  erforderliche professionelle Interesse an fremden Werken hatte, Voronskijs Posten bei »Krasnaja Nov’«. Er geht mit offiziellen Berichten zu wichtigen Persönlichkeiten und konsolidiert die wirtschaftliche Basis seiner Lebensverhältnisse. Er band Tamara fest an sich. Sie wissen ja, daß sie jetzt mit ihm lebt. Er will nicht, daß auch nur der Name seines Vorgängers erwähnt wird, und er läßt nicht zu, daß in seiner Gegenwart über Babel’ gesprochen wird. Zum Glück erlaubt er wenigstens, daß der Babelsprößling [Emmanuil] bei seiner Mutter leben darf. Er zwang sie, ihre Arbeit aufzugeben und hält sie wie in einem Serail, wobei er Telefongespräche wie Besuche streng kontrolliert. Sie meint trotzdem, glücklich zu sein. Wie Tschechows »Schätzchen« begeistert sie sich jetzt für die künstlerische Arbeit von Vsevolod, den sie unter Babel’ nicht als Schriftsteller anerkannt hatte. Deshalb mag ich sie nicht mehr. Ein billiges Flittchen.«

Die Erzählungen »Partisanen« und »Panzerzug 14-59« hatten ihm viel Ruhm eingebracht, wurden im ersten »dicken« Literaturjournal »Krasnaja nov‘« 1921 veröffentlicht, deren Redakteur Ivanov auch zeitweilig war. Das veranlaßte offenbar Stalin, sich am 3. Juli 1922 an alle Politbüromitglieder zu wenden: »Sowjetisch gesinnte Dichter zu einem Kern zusammenzuschweißen und sie in jeglicher Weise in diesem Kampf zu unterstützen – das ist die Aufgabe. Ich denke, die zweckdienlichste Form dieses Zusammenschlusses junger Literaten wäre, sagen wir, die Organisation einer selbständigen  »Entwicklungs-Gesellschaft für russische Kultur« oder so was in dieser Art.  …Es wäre gut, an die Spitze dieser Gesellschaft  unbedingt einen parteilosen, doch sowjetisch gesinnten Mann, wie, sagen wir, Vsevolod Ivanov, zu stellen.«

Manches andere, das Ivanov in jenen Jahren schrieb, fand wenig Zustimmung. Seine Erzählung »Rückkehr des Buddha« wurde vom Chefredakteur der »Krasnaja nov’«, Voronskij, abgelehnt, Karl Radek sagte Ivanov sogar, dies sei eine konterrevolutionäre Geschichte. Der 1939 veröffentlichte Roman »Parchomenko«, die Geschichte eines Bürgerkriegshelden in der Ukraine, ganz im Stil des sozialistischen Realismus, fand kaum ein Echo, nicht weil die kulturpolitischen Winde jetzt aus einer anderen Richtung kamen, nein, Isaak Babel’ war verhaftet worden und hatte unter Folter ausgesagt, Ivanov, Ėrenburg  und andere Autoren seien Mitglieder einer trotzkistischen Gruppe. Babel’ widerrief seine Aussage, doch die Angst vor den »Organen« ging um, allein von den 50 geladenen Gästen am Abend des 26. Oktober 1932 in Gor’kijs Villa waren bis Ende 1938 bereits neun der Teilnehmer erschossen, unter ihnen auch der proletarische Schriftsteller Nikiforov, der sich gegen die endlos ausgebrachten Tost auf Stalin gewandt hatte.

4

Zehn Monate nach der denkwürdigen Zusammenkunft im Hause Gor’kij, stach am 17. August 1933 in Leningrad der Dampfer »Tschekist« »in See«, der sechs Tage den Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal befuhr, beladen mit 120 Schriftstellern (im Juli hatten Stalin, Vorošilov und Kirov auf der »Anochin« den Kanal begutachtet), damit die »Ingenieure der menschlichen Seele« sich ein Bild von der Umerziehung (in der UdSSR sprach man vom »Umschmieden«), von sich der Kollektivierung verweigernden Bauern, von Kriminellen und von politischen Gefangenen zu Sowjetmenschen machen konnten. An Bord fehlte es an nichts, Speisen, Getränke auf Rechnung der OGPU, die mit dem Bau des Kanals beauftragt war. Ein Buch sollte entstehen, eine Idee von Gor’kij, die er Stalin vorgetragen hatte. Unter den »Passagieren« befanden sich namhafte Autoren wie Aleksej Tolstoj, Valentin Kataev, Il’ja Il’f, Evgenij Petrov, Michail Zoščenko, Vera Inber, Marietta Šaginjan, Boris Pil’njak, Leonid Leonov, und viele andere. Andrej Platonov, Ingenieur und Wasserbau-Experte, der sich an der Reise beteiligen wollte, wurde die Mitfahrt verweigert. Zu den »Passagieren« zählte auch Kornelij Zelinskij, der noch immer auf Stalins Zustimmung zur Veröffentlichung seiner Aufzeichnungen – vor allem jener von Stalins Rede – bei der Zusammenkunft in der Gorki-Villa wartete. 

»Ich erinnere mich an den Dampfer, ein prächtiges Buffet, ein pausenlos Walzer spielendes Orchester«, erzählte Leonid Leonov später. »Der Dirigent ist ein rotwangiger Dickwanst, dessen Rockschöße wegen seiner Wohlgenährtheit hinten sperren. Ich fragte: »Wer ist das?« – „Ein bedeutender rumänischer Spion!«

Natürlich war Vsevolod Ivanov unter den Dampferpassagieren, begleitet von seiner Frau Tamara. Sie erinnerte sich 1989 an diese Reise: »Sie zeigten, das war mir damals schon klar, »potemkinsche Dörfer«. Ich konnte mich nicht enthalten, Vsevolod und auch Michail Michajlič Soščenko zu fragen: Seht ihr denn nicht, daß die Auftritte ‚umgeschmiedeter‘ Krimineller hier eine Theatervorstellung sind, die Landhäuser mit ihren Vorgärten und den mit sauberem Sand bestreuten Wegen und mit den Blumenbeeten, nur Theaterdekorationen? Sie antworteten mir ehrlich (beide glaubten an die Möglichkeit des sogenannten »Umschmiedens«), daß man einen Menschen für die Umerziehung vor allem in einer sehr guten Umgebung unterbringen muß, völlig unähnlich jener, aus der er in die Welt des Verbrechens geraten ist. Unter den Kriminellen waren zweifellos hochtalentierte Schauspieler. Sie hielten leidenschaftliche Reden vor uns, vergossen echte Tränen – nach Stanislavskij-System! Das mag unwahrscheinlich klingen: aber sowohl Vsevolod als auch Michail Michajlič glaubten ihnen. Doch das Wichtigste war, sie wollten ihnen glauben!« 

Die Schiffsreise muß vergnüglich gewesen sein. Die Schriftsteller gaben eine »Bordzeitung« heraus – »Das Lächeln des Tschekisten-Mondes« (ein Porträt des mondgesichtigen GPU-Chefs des BelBaltLag Firin vom Karikaturistentrio Kukryniksy gezeichnet), ein paar Schriftsteller lieferten Texte dazu. Bruno Jasieński (1938 erschossen) dichtete holprig: »Ja, Firins Methode die ist echt/ wir fahren zu ihm, sieht er’s gern?/ Aus Dieben hat er Menschen gemacht…/ Na los, versuch’s mit Schriftstellern.« Ivanov trug pathosgetränkt bei: »Ehrlich gesagt: Es tut mir sehr leid, daß ich sehr spät in diese graublauen Wälder voller Findlinge geraten bin. Das erinnert an Sibirien, die Jugend, die raue Natur und die rauen Verpflichtungen des Menschen – und du beginnst unser junges und raues , unser sehr gutes – raues als auch gutes – Sowjetland zu lieben«.

Liest man die unmittelbar nach der Reise an Jagoda übermittelten Zeilen, scheint die Kaširina mit ihrer Behauptung recht zu behalten, ob sie allerdings so sehr anderer Ansicht war, verlangt wenigstens ein Fragezeichen. Ivanov schreibt (auf der Rückreise von Leningrad, dort endete der Kanalausflug wieder, nach Moskau an Jagoda): »Lieber Genrich Grigor’evič, in Eile zum Zug, mit fremdem Füller - dem von Vl. Lidin, danke, danke für die großartige Idee, die uns erlaubt, den B.-B. Kanal zu sehen. Schrecklich schade, daß ich ihn nicht früher sehen konnte, im Frühjahr, als Sie’s vorgeschlagen hatten. Ich küsse Sie fest!«

Anrede und Gruß zeugen von einem sehr intimen Verhältnis, wie es im Schriftverkehr mit der GPU nicht unbedingt üblich war.

Und Zoščenko schreibt an Jagoda: »Mich haben vor allem die Menschen überrascht, die dort arbeiteten und die diese Arbeit organisierten. Ich hatte bisher keine Gelegenheit, die GPU in der Erzieher-Rolle zu sehen – und was ich sah, war äußerst erfreulich für mich«.

Im Krasnogorsker Filmarchiv waren wir im März 1996 auf den Dokumentarfilm »Belomor-Ostsee Wasserweg« von 1932 gestoßen. Aus meinen Aufzeichnungen in jenen Tagen: »Film über den Bau des Belomor-Kanals nach einem Szenarium von Vera Inber, Viktor Šklovskij und Aleksandr Lemberg, der auch als Kameramann die Regie hatte. Den Kanal erbauten Gefangene, den Bau leiteten NKVD-Leute. Die Kamera ist anwesend. Es wird für die Kamera inszeniert. Ein Film, der den Bau als heroische Leistung der Sowjetmacht propagiert. Das ist vielleicht eines der deutlichsten Beispiele, wie unter den Augen und der Regie der »ČK« [črezvyčajnaja komissija – Außerordentliche Kommission], also der Tscheka, Wirklichkeit inszeniert wird. Was nicht inszeniert werden kann, ist der Ort. Aber alles andere! Im Film gibt es eine Stelle, an der es heißt, nach zwei oder drei Jahren waren die ersten Maschinen da und man sieht gewaltige Holzräder, die Seile hochwinden, um Pfähle einzurammen, Bild eines archaischen Tuns. Die besten Techniker, die einfallsreichsten Erfinder holte man in dieses Lager, die dort mit primitivsten Mitteln versuchten, die Arbeit schneller vorangehen zu lassen. Die »Maschinen« wurde nicht in erster Linie konstruiert, um den Gefangenen die Arbeit zu erleichtern, von ihnen gab es genug, sie wurden konstruiert, um die Pläne zu erfüllen, sie schneller zu erfüllen.« 

Ende 1933 wird das dem XVII. Parteikongreß gewidmete Buch »Der Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanal. Die Baugeschichte« fertiggestellt, ein 600 Seiten starkes Werk, herausgegeben von Maksim Gor’kij, Leopold Averbach, dem Vorsitzenden der RAPP (dessen Schwester die Ehefrau Jagodas war) und Semjon Firin, Leiter des BelBaltLag (Weißmeer-Ostsee-Besserungsarbeitslager), des für den Bau des Kanals gegründeten Arbeitslagers und stellvertretender Leiter des Gulag. Das professionell gemachte Buch war mit Fotos vom Avantgarde-Fotografen Rodčenko ausgestattet, auch Aleksandr Lemberg, Regiekameramann des »Kanal-Films«, lieferte Bildmaterial. Eine »Edel-Ausgabe« wird in 4000er Auflage gedruckt und wenige Tage nach Fertigstellung an die Delegierten des XVII. Parteitages, als »Parteitag der Sieger« in die Parteigeschichte eingegangen, verteilt. Eine Auflage mit 30.000 Exemplaren und eine Massenauflage mit 80.000 Exemplaren folgten. Für die mehrsprachige Monatszeitschrift »SSSR na strojki«,  gestaltete Rodčenko im Dezember 1933 eine komplette Nummer, deren Fotos durch seine Montagepraxis ein geschöntes und verzerrtes Bild der wirklichen Zuständen im Lager zeigten und dem Buch fast etwas Avantgardistisches gaben. 1937 wurde das Buch eingezogen, die Auflage weitgehend vernichtet, zu viele »Helden«, allen voran Genrich Jagoda, waren erschossen worden. 

Der Bau des Stalin-Weißmeer-Ostsee-Kanals war neben Dneprogez und Magnitogorsk eine der Großbaustellen des Aufbaus im 1. Fünfjahrplan der UdSSR und wurde mit entsprechend viel Propaganda begleitet. Hunderttausende von Häftlingen wurden in von der GPU eingerichteten Lagern, wie hier im BelBaltLag, zur Arbeit gezwungen. Einer der vielen hunderttausend Häftlinge des BeltBaltLag war der russische Religionsphilosoph und Altertumswissenschaftler Aleksej Fëdorovič Losev (1893-1988). Er war 1929 heimlich Mönch geworden und hatte 1930 »Dialektik des Mythos«, eine Ablehnung des Marxismus und der offiziellen Philosophie des dialektischen Materialismus veröffentlicht. Die Auflage des Buches wurde konfisziert und vernichtet. Wegen seiner Mitgliedschaft in einer christlich-monarchistischen Organisation zu zehn Jahren Haft verurteilt, wurde er auf eine Baustelle des Weißmeer-Ostsee-Kanals deportiert. Weil Lunačarskij sich für ihn einsetzte, ließ man ihn, fast vollständig erblindet, 1933 frei. Er wandte sich der materialistischen Dialektik zu, fügte Marx- und Lenin-Zitate in seine Arbeiten ein, wurde Professor am Institut für Geschichte der Philosophie in Moskau.  Ein wahrer »Umgeschmiedeter«? Auch der futuristische Dichter Igor Terentiev baute erst am Belomor- und anschließend am Moskva-Wolga-Kanal. Er wurde allerdings 1937 erschossen.

5

Das Buch hatte 15 Kapitel, bis auf drei waren sie kollektiv verfaßt. Gor’kij, an der »Dampfer-Exkursion« nicht beteiligt, schrieb das erste und das letzte Kapitel, gab also vor, wie das Buch zu lesen sei und welche Schlüsse daraus gezogen werden müssen. Er wurde nicht müde, den »Sieg des kollektiven Geistes über verschiedene und mächtige Widerstände der physischen und sozialen Natur“ zu betonen und das Kollektiv als den „wahren Autor des gesamten Buches« zu feiern. 

Als Schriftstellerkollege hob er die »erste und erfolgreiche Erfahrung kollektiver Arbeit von Autoren, die in ihren individuellen Talenten äußerst unterschiedlich sind«, hervor, bemängelte aber zugleich, »daß zu wenig über die Arbeit der 37 Čekisten und Heinrich Jagoda gesagt wird. Aber dieser Mangel ist nicht Schuld der Autoren – es liegt an der Bescheidenheit jener Menschen, die die Feinde der Union der Sowjets als »Teufel der Hölle« und »Kreaturen des Satans« darstellen«. Das dritte Einzelkapitel stammte von Zoščenko, »Die Geschichte eines Umgeschmiedeten« (er veröffentlichte es später separat als »Geschichte eines Lebens«). Insgesamt trugen 36 Autoren zu dem Band bei.

Ivanov war von den mitreisenden Autoren mit sechs Beiträgen der »Fleißigste«. Er schrieb für die Kapitel IV (Häftlinge, V (Čekisten), IX (Den Klassenfeind erledigen), X (Sturm der Wasserscheide), XI (Der Frühling prüft den Kanal), XIII (Stalins Name), sein Debüt als kollektiver Schriftsteller. Mit dem Petrograder Serapionsbruder Viktor Šklovskij hatte er 1925 bei »Senfgas« erste Erfahrungen einer solchen Arbeitsweise gesammelt. Das Buch geriet jedoch bald in Vergessenheit, es war der Versuch einer universellen Parodie, aber eher eine unterhaltsame Erdkunde mit Hieben auf die Abenteuerromantik. 

Šklovskij fehlte als Passagier auf dem Dampfer »Tschekist«, gehörte aber zu den »Beiträgern« des »Belomor-Romans«. Kanal und BelBaltLag hatte er schon zuvor bereist, denn für »Vostokkino« arbeitete er am Szenarium für den Dokumentarfilm »Belomor-Ostsee Wasserweg 1932«. Er hatte viel Stoff gesammelt, vor allem die Gelegenheit gesucht, seinem vier Jahre älteren Bruder Vladimir Borisovič, orthodoxer Priester, der 1930 verhaftet worden war, dort zu begegnen. Vladimir kam 1933 frei, wurde jedoch im Oktober 1937 erneut verhaftet und im November erschossen. Die großzügige Bereitschaft Viktor Šklovskijs am »Belomor-Roman« mitzuarbeiten, er war an neun Kapiteln beteiligt, und seine damit verbundenen Hoffnungen, den Bruder freizubekommen, waren trügerisch. 

Die Reise der Schriftsteller hatte nach Eröffnung des Kanals stattgefunden, zum Zeitpunkt, als die Masse der Häftlinge vom Belomorkanal schon zum Bau des Moskau-Wolga-Kanals transportiert worden war. Von den in 20 Monaten Bauzeit zur Arbeit gezwungenen Häftlingen waren zwischen 12.300 (die offizielle russische Zahl) und 80.000 (in dieser Spanne bewegen sich die Schätzungen) umgekommen, 12.000 etwa wurden entlassen, für 60.000 Kanalarmisten, analog zu Rotarmisten, verkürzte sich die Haftzeit, sie wurden zur nächsten »Großbaustelle«, dem Moskva-Wolga-Kanal abkommandiert, der, wie es in der Propaganda hieß, Moskau mit fünf Meeren verbinden wird. 

Was die Dampferpassagiere sahen, war nicht mehr die raue Lagerrealität. Ivanov wird kaum den Belomor-Kanal-Film gesehen haben, der zwar auch ein »sauberes« Bild zeichnete, aber die Filmkamera war manchmal nicht zu überlisten. Schaut man genau auf einzelne »Kader« (Filmbilder) sind Härte und Schwere der Arbeit überdeutlich, auch das Inszenierte wird sichtbar (nicht nur in der Lagerküche, im »Klub« bei Lesen und Musizieren). Ist die Kamera auf Häftlinge gerichtet, beschleunigen sie sofort das Arbeitstempo, die Waldrodung läuft so atemberaubend schnell ab, daß bei den unkontrolliert stürzenden Bäumen man sich die Verletzten und Erschlagenen dazudenken kann. Man meint, der Film laufe im Zeitraffertempo ab. Oder trugen die Häftlinge beim Steineschichten wirklich Handschuhe, wie die Filmbilder es suggerieren, hatte man bei einer Versammlung wirklich keck die Zigarette im Mundwinkel hängen?

Ivanov dürfte auf das Verfassen seiner Texte für das »Kollektivwerk« nicht allzu viel Zeit aufgewendet haben. Im August 1934 war der Sowjetische Schriftstellerverband gegründet worden (im Haus der Gewerkschaften, im Säulensaal, in dem die toten Führer aufgebahrt wurden und zwei Jahre später die Großen Prozesse verhandelt werden sollten, hatten sich 597 Delegierte getroffen). Ivanov wurde Verbandsfunktionär in Schlüsselposition. Als Vorsitzender des Literaturfonds entschied er über die materielle Versorgung seiner Kollegen, die je nach Rang, mit Wohnung, Datscha, Reisen, Kuraufenthalt usw. zu versorgen waren. 

Auf dem Kongreß widersprach Ivanov seinem Kollegen Il’ja Ėrenburg, der vehement die Auffassung vertrat, ein Kunstwerk sei immer eine individuelle Angelegenheit und literarische Brigaden würden ein malerisches Detail der Jugend bleiben: »Ich betone hier«, so Ivanov, »in einer dieser literarischen Brigaden gearbeitet zu haben, um die Geschichte des Weißmeerkanals zu schreiben, und dies wird für mich einer der besten Tage meines schöpferischen Lebens bleiben. Ich bin sicher, mir wird ein Buch über Menschen des Zweiten Fünfjahresplans, an dem, wie bekannt, eine Literaturbrigade von 70 sowjetischen Autoren arbeiten wird, genau dieselbe Freude bereiten.« Und gehässig fügte er hinzu: »Das heißt nicht, daß ich den unvergleichlichen Ėrenburg überreden würde, sich einer dieser Brigaden anzuschließen. Einem gefällt der internationale Salonwaggon Baujahr 1893, einem anderen  das Flugzeug ‚Maxim-Gorki’« (ein Großflugzeug, das größte der Welt, stürzte allerdings 1935 mit 36 Passagieren über Moskau ab.). Er unterstrich, daß wir Schriftsteller für eine bolschewistische tendenziöse Auslegung in der Literatur eintreten, wie Genosse Ždanov es formuliert hätte und erntete spontan Applaus.

Während all dieser Zeit, dieser Jahre, schrieb er seit 1929 am Roman »U«, eine Geschichte, die seinen Auftritten, Äußerungen, Bekundungen, Zustimmungen, öffentlichen Reden, verordneten Literaturauffassungen so widersprach, daß sie, wäre sie ruchbar geworden, ein Fall für die GPU gewesen wäre, wie es sich bei Autoren wie Babel’, Pil’njak, Platonov oder Bulgakov zeigte. Es ist erstaunlich und eine der geheimen Seiten Ivanovs – gesellschaftliche Pflichten beiseite geschoben, ideologische Denkmuster unterdrückt, seinem Temperament entsprechend geschrieben  – und dieses Manuskript  gehütet zu haben. Schizophrenie einer Epoche.

6

Perekovka – Umschmieden – war das Hauptwort jener Zeit. Aus dem »alten Menschen«, aus vorrevolutionären Bauern, Arbeitern, Intelligenzlern sollte der »Neue Mensch« mit Feuer, Hammer und Amboß geschmiedet werden. Gor’kij war vom »Neuen Menschen« besessen. Das Interesse für die Psychoanalyse, mit deren Hilfe man zu diesem Ziel gelangen wollte, war erwacht und fast ist es eine Ironie der Geschichte, daß in der Rjabušinskij-Villa ein Experimentalinstitut zur Schaffung des »Neuen Menschen« eingerichtet wurde, dort die Psychoanalytische Gesellschaft ihren Sitz hatte, später zum Lebensort Gor’kijs wurde und heute Museum ist. 

Die Geschichte, die Ivanov erzählt, ist die grotesk überhöhte Geschichte vom Versuch, diesen »Neuen Menschen« zu schaffen, ein Versuch, der natürlich scheitert. Nicht zufällig will Tscherpanov, der »Manager« der Idee, ein Machtmensch, diese Einrichtung im Ural schaffen, dort wo das Zentrum der Eisen- und Stahlerzeugung als das grandioseste Aufbauprojekt aller Fünfjahrpläne installiert worden war – am Sitz der Eisengötter – mit Abstich, Schmelze, Feuer, Rauch, Hochöfen, Walzstraßen.

Was Ivanov bei der Reise auf dem Belomor-Kanal gesehen hatte, war längst in seiner Phantasie zu einer absurden Geschichte geworden, wie sie noch ein paar andere Autoren erzählt hatten oder noch erzählen würden, meistens ohne Aussicht, solche Geschichten jemals veröffentlich zu können. Manche schrieben ihre Texte solange um, zensierten sich selbst, wurden zensiert, bis sie in den sozialistischen Literaturkanon, der in der Gor’kij-Villa einen seiner Ursprungsorte hatte, paßten. Seltsamerweise verweigerte Ivanov sich hier dieser Praxis - dieses Manuskript blieb in der Schublade. 

1988 erschien es in der Sowjetunion (zuvor gab es 1982 in Lausanne eine russische Ausgabe), 1990 erneut, diesmal zusammen mit einem anderen „Schubladenroman“ Ivanovs  »Užginskij Kreml’«, der schon 1981 in Moskau verlegt worden war (deutsch unter dem Titel »Der Kampf um den Kreml«, übersetzt von Günter Dalitz 1989 im Ostberliner Aufbau-Verlag). Mitte der 90er Jahre konnte Regine Kühn beim Verleger Johannes Lang in Münster (der mit Babel’, Vaginov, Lev Lunc, Severjanin, Rubinštejn ein äußerst anspruchsvolles Programm hatte), großes Interesse für Ivanovs Roman »U« wecken, leider ließ sich das Vorhaben aus finanziellen Gründen nicht realisieren. Auch stellte sich heraus, daß das Manuskript noch einiger Korrekturen bedurfte, um der Fassung von 1932 zu entsprechen. So saß man erst 2011 der barocken Gestalt Vjačeslav Vsevolodovič Ivanovs gegenüber, des 1929 geborenen Sohnes, Linguist, Semiotiker, Literaturwissenschaftler, der sich für ein paar Monate in Moskau aufhielt (Lehrstuhlinhaber für slawische Sprachen und Literatur in Stanford/Kalifornien, er starb 2017 in Los Angeles), um endgültig einen Verlagsvertrag für die Herausgabe und Übersetzung bei Matthes & Seitz zu unterschreiben.

Am 5. Dezember 1931, um 12 Uhr, es war ein Samstag, erschütterten zwei Detonationen die von einem hohen Zaun umfriedete Christ-Erlöser-Kirche (oder das, was nicht mit Spitzhacke und Preßluft zu zerstören war), Ziegelstaub senkte sich auf das Haus Nr. 42 und auch die Fenster der wenige Tausend Meter entfernten Wohnung von Vsevolod Ivanov in der 1. Meščanskaja dürften noch geklirrt haben.

Im Haus Nr. 42, in dem sich neben Leuten aus der Provinz, die nach Moskau zum Arbeiten gekommen waren, auch »Grenzfälle der kleinen Psychiatrie« zusammengefunden hatten, wie Jegor Jegorytsch erzählt, wollte Tscherpanov bald seine Kolonnen zusammenstellen, die im Ural umgeschmiedet werden sollten. In all dem täglichen Chaos dieses Hauses, war es nichts Ungewöhnliches, als eines nachts Doktor Andrejschin mit einem Hahn auftauchte, den er zu schlachten beabsichtigte. Der Hahn entkam, wich Lastwagen im altrussischen Stil aus, die ‘veredelte’ Teile aus der Bretterabsperrung um die Christ Erlöser Kirche abtransportierten,… schoß auf den Theaterplatz hinaus, zum Haus der Gewerkschaften, wo im Saal mit den Säulen, die Stearinkerzen ähneln,… schon der gerade aktuelle Parteikongress tagt, schon ein Redner am Mikrofon steht,… darüber das Porträt des Führers.

Der Hahn wandte sich zur Twerskaja! Der Hahn bog in die Twerskaja ein!

In die Twerskaja!!!

Da erscheint plötzlich, wie aus dem Nichts, aus dem Nebel des Schneetreibens kommend, eine Gruppe von etwa 120 Menschen, vorweg ein Lkw mit Transparenten. Die Menge, durchweg alte Männer und Frauen, marschieren in trotziger Formation die Tverskaja hinab, tragen rote Transparente, auf denen zu lesen ist »Der Kommunismus lebt«. Ihre Aufrufe zum Widerstand gegen den Präsidenten aus ihren Sprechtüten gehen im Verkehrslärm unter. Auf dem Trottoir bleiben die Leute nicht mal stehen, um dem Häuflein nachzuschauen, in gebührendem Abstand begleitet sie Miliz, wie ein Phantom ziehen sie vorüber, ein Bild, das aus einem Film von Bertolucci sein könnte. Alles sieht wie inszeniert aus. Hier ist es Wirklichkeit. Der Marsch ist vorbei, den Autos gehört wieder die gesamte Breite des Boulevards. Aus. Vorbei. Es war wie ein Windhauch, leicht gerötet, und dort, wo die Scheinwerfer auf ein Stück rotes Fahnentuch trafen, auch blutig. Die Verkehrung der Zeit. So könnten sie 1905 auf die Straße gegangen sein. Ein Häuflein trotziger oder tollkühner Revolutionäre, heute nur eine groteske, hoffnungslose Erscheinung. Das Bild beeindruckte – wegen der Gleichgültigkeit der Passanten und der verschwindend kleinen Gruppe von Demonstranten. Kino auf der Straße. Aber Kino, in dem es auf den Plätzen rücksichtslos zugeht, wer stehenbleibt, wird roh angerempelt, weitergeschoben. Geh schon! das sehen wir hier täglich, scheinen die Gesten der Vorübergehenden zu sagen. 

Zwischen beiden Bildern liegen siebzig Jahre!

 

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© Radonitzer 2021

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