26.06.2022

Zombie-Highway der Endorphine

Zombie-Highway der Endorphine

von Tobias Premper

César Aira zählt zu den wichtigsten Autoren der Gegenwart – und ist vielleicht sogar ihr raffiniertester. Aberwitzige und riskante Erzählkonstruktionen und Plots könnten dazu führen, dass seine Bücher schwer lesbar sind. Das Gegenteil ist der Fall. Mehr noch: Airas Bücher machen süchtig.

Geboren wurde César Aira 1949 in der argentinischen Kleinstadt Coronel Pringles. Bislang sind über 80 Bücher erschienen, darunter Romane, Novellen, Kurzgeschichten und Essays, der Autor selbst hat den Überblick verloren. Aira stößt der Begriff »Roman« ab, weil er ihn für eine veraltete, erschöpfte Gattung hält. Er bezeichnet seine Bücher eher als Scheinromane oder Pasticcios. Letztere galten im 19. Jahrhundert als sogenannte Flickopern, in denen beliebige Musikstücke unterschiedlicher Genres verwebt wurden und die auch heute noch für Befremden beim Publikum sorgen können, wenn die Zusammenstellungen nur auf Effekt abzielen, anstatt in der Geschichte verankert zu sein. Aira gelingt es allerdings in seinen sorgfältig arrangierten Pasticcios, philosophische Themen mit Trash-Themen zu kombinieren, dadurch die Brüche des Lebens aufs Tablett zu hauen und wahre Kunstwerke zu erschaffen, die so brutal sind wie das Leben selbst. In seinem Buch »Wie ich Nonne wurde« etwa, Achtung: Spoiler, gibt es am Ende einen ungerechten, fiesen Racheakt. Ein Kind wird in einen Behälter mit Eis gesperrt und erstickt an dem Eis.

Brutalität und Härte brechen oft unvermittelt aus alltäglichen Szenen heraus – so wie etwa in »Die Schneiderin und der Wind« ein Monster aus einer vergewaltigten schwangeren Frau herausbricht. Im Gegensatz dazu finden sich bei Aira aber auch Momente des Lichts, die voller Zärtlichkeit sind. In »Die Prinzessin Primavera« wird ein Jüngling mit dem Namen »Picknick« an den Strand einer Insel gespült. »Und was gibt es für eine schönere Kombination als Frühling und Picknick?« heißt es im Buch. Später taucht dann noch ein sprechendes, Blitze abschießendes Speiseeis auf, das für Kapitän Winter arbeitet und es auf Picknick und Primavera abgesehen hat. Abgründe der Angst und Horizonte der Hoffnung – sie wechseln sich stets ab. 

Zurück zum Autor. César Aira schlägt Haken wie ein Weltmeisterhase, improvisiert wie der von ihm verehrte Jazzpianist und -komponist Cecil Taylor, erschafft mit seinen Geschichten etwas Eigenes und Einzigartiges, erfindet sich ständig neu, schaufelt sich frei von Erwartbarem und schlägt sich durch auf abseitigen unbetretenen Pfaden. Aira erschreibt sich seine Freiheit.

Am Ende seiner Bücher verweist stets ein Datum darauf, der Autor habe den jeweils vorliegenden Roman an einem einzigen Tag in einem Rutsch geschrieben. Was der Wahrheit entsprechen soll. Aira sagt dazu, er suche die Unmittelbarkeit des Entwurfs und schreibe am liebsten in Cafés, um sich dabei zu dekonzentrieren. Eine schöne Voraussetzung, um sich anschließend wieder ganz zu fokussieren. Womit wir beim aktuell vorliegenden Band 11 der Aira-Bibliothek sind, betitelt »Das Abendessen«, das soeben bei Matthes & Seitz erschienen ist und das Aira am 28. Juni 2005 geschrieben hat. 

Bevor Sie »Das Abendessen« aber kaufen oder gar wagen sollten, es bloß in die Hand zu nehmen, befolgen Sie bitte diese Anweisungen: Besorgen Sie sich ein Zombie Kit, bestehend aus einem ausreichend großen, wasserdichten, bissfesten Rucksack, abgesägter Schrotflinte und Munition, Machete, Axt, Antiseptikum, robustem Seil, Baseballschläger, Leuchtraketen und so weiter und so fort. Denn: Ihnen steht die Apokalypse bevor. Oder wie Marlon Brando sagen würde: the horror, the horror. Zusätzliche Inspiration zu Ihrer lebensrettenden Ausrüstung bekommen Sie, wenn Sie noch einmal alle 499 Staffeln von »The Walking Dead« schauen oder ein entsprechendes Kurzvideo im Internet. Na, läuft Ihnen schon das Wasser, pardon, das Blut im Mund zusammen? Leider wird Ihnen kein Zombie Kit dieser Welt helfen. Denn die von diabolischen Mächten ferngesteuerten Untoten, die »Das Abendessen« bevölkern, werden Ihnen trotzdem die Endorphine aus den Gehirnen schlürfen und damit alles Glück Ihrer Welt. Sie sind nämlich nicht nur untot, sondern auch nicht mit den bislang bekannten Zombies aus Film, Funk und Fernsehen vergleichbar – sie sind unsterblich (auch, wenn sie manchmal nur noch auf zwei verrotteten Stümpfen anstelle intakter Beine durch die Gegend wandeln). Was können Sie also tun? Nun, ohne Ihnen den ganzen Lesespaß zu verderben, kann so viel verraten werden: Es gibt vielleicht doch eine Waffe, die die Zombies besiegen kann, wobei »Waffe« und »besiegen« die falschen Worte sind. Jedes weitere Wort dazu wäre jetzt allerdings zu viel. Lesen oder sterben Sie wohl!

 

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Tobias Premper (*1974) ist Grenzgänger zwischen den Medien. Er arbeitet im Bild-Text-Bereich (Stichwort „Boxenbücher“) und als Autor (Stichwort „Miniaturen“). Zuletzt erschienen: „Aber nur dieses eine Mal“ (2020, Steidl Verlag) und „Gelati! Gelati!“ (2021, edition AZUR).

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